HERSCHELL GORDON LEWIS: The Lost Films (3-DVD-Box)

Man kennt Herschell Gordon Lewis vor allem über seine Gore-Filme. „Blood Feast“ und „Two Thousand Maniacs“ gehören nicht nur in jeden Nerd-Kanon, sie wurden auch im Cahier du Cinema zu den besten US-Filmen gezählt. Ob es nun eher der Farbenrausch in „The Gore-Gore Girls“ ist oder das abstruse Kammerspiel in „The Twosome Gruesome“, die ihn als auteur auszeichnen, bleibt Geschmackssache. Innerhalb seines Gesamtwerks von knapp vierzig Filmen (von denen knapp die Hälfte veröffentlicht wurde) nimmt das Gore-Genre, dessen große Zeit schon in den frühen Siebzigern vorbei war, keineswegs den größten Raum ein. Die Mediensatire in „The Wizard of Gore“ fand bspw. ihren Niederschlag in noch kritischeren Filmen, auch wenn man dieses Attribut bei Lewis’ persiflierendem Ansatz eigentlich per se in Anführungszeichen setzen müsste. „This Stuff’ll Kill Ya!“ und „Year of the Yahoo“ sind hämische Politsatiren über Bootlegger und wandernde Menschenfischer und führen sämtliche Redneck-Klischees ad absurdum.

Schwer vorstellbar, dass jemand wie Lewis, der von Genre zu Genre hüpfte und mit minimalem Budget schnelles Geld einspielte, nicht auch einen Abstecher in die kommerziell einträglichste Sparte des amerikanischen Genrekinos gewagt hätte: den Sexfilm. Zählt man die gute handvoll „Nudies“ dazu, die Lewis auf dem Höhepunkt der Birdwatcher-Welle in den frühen 60ern gedreht hat, dann nimmt dieser Bereich sogar den Hauptanteil in seinem Schaffen ein. Auf der vor kurzem erschienenen Combibox „The Lost Films“ sind drei Werke enthalten, die in den Jahren um 1970 für ein einziges texanisches Grindhouse Theatre gedreht wurden, und Gerüchten zufolge dort wohl schon in wenigen Tagen die Produktionskosten eingespielt hatten. Sie wurden wohl nie mehr woanders gezeigt, und als serieller Massenramsch betrachtet verschwanden sie bald sang- und klanglos in einem lokalen Archiv. Als sich Jahre später Fans dafür zu interessieren begannen, waren zunächst sämtliche Spuren verwischt, erst eine unermüdliche Suche hat dafür gesorgt, dass sie wieder aufgetrieben wurden und eine kompetente Restauration erfuhren.

Der gemeinsame Nenner mit Lewis’ bekannteren Filmen ist intentionaler Natur: Seine Gorefilme wie seine Sexfilme wollen den menschlichen Körper im Ausnahmezustand zeigen, während oder nach einem rabiaten Zugriff, wobei sich ironische Persiflage und stillebenhafte Ästhetisierung stets überschneiden. Alles in seinen Filmen steuert auf extreme Bilder zu, recht plötzlich aufgespießt von der offensiven Kamera, welche die theaterhafte Statik der jeweiligen Szenen wie ein Hymen durchbricht und den finalen Closeup zum Höhepunkt werden lässt. Ob es sich bei dem Objekt dieses Zugriffs um den schönen nackten Körper oder die zerstückelte Leiche handelt, bleibt sekundär, ebenso die narrative Handlung, die oft einen derart hanebüchenen Vorwand bildet, dass schnell klar wird, dass in der Lewis-Welt nichts ernst genommen wird. Wer zu den hölzernen Stories und der Statik der Bilder keinen Bezug hat – was selbst unter hartgesottenen Genrefans oft vorkommt und dann bestenfalls über Ironie kompensiert wird – hat mit Lewis verständlicherweise seine Schwierigkeiten.

Der 1969 gedrehte „Extasies of Women“, ein typischer „Exploitation Glamour“-Film, könnte glatt als Persiflage auf die hohe Kunst des Geschichtenerzählens durchgehen, wüsste man es nicht besser bei einem Regisseur, der sich wenig Gedanken um die erzählerischen Standards der „false intellectuals“ (Jess Franco) gemacht hat, und als literaturwissenschaftlich geschulter Theatermensch dennoch ein gutes Händchen für Komik und Sprachwitz hat. Der Film, der in Episoden die Geschichte eines Dessousvertreters präsentiert, der den Spaß an seinem Beruf vor seiner Hochzeit noch einmal voll auskosten will, wirkt in all seiner Plattheit und mit all seinen an den Haaren herbeigezogenen Ereignissen nie angestrengt und dank der schlagfertigen Wise Crack-Dialoge auch nicht langweilig. Wer mit diesem recht einfachen Rezept klar kommt, kann einen schönen Sexfilm goutieren mit viel stylischem Eyecandy und exquisiter Loungemusik.

Vom Jetset dieser Zeit entführt uns der im gleichen Jahr gedrehte Sexwestern „Linda and Abilene“ auf die durch Manson und Familie bekannte Spahn Ranch in Kalifornien. Im krassen Kontrast zu den stylischen urbanen Ladies und der groovigen Easy Listening-Musik tummeln sich hier frivol-verträumte Naturkinder zu melancholischem Country-Folk. Aufgrund des bekannten Drehortes war der Film stets etwas berüchtigter als die beiden anderen. Qualitativ fällt er jedoch hinter „Extasies“ zurück, da hier Story und Plot ein größeres Gewicht bekommen. Der Motivwechsel von einer inzestuösen Geschwisterbeziehung hin zu einer lesbischen Liebesgeschichte ist hier in eine klassische Westernhandlung eingebaut, die auf Dauer wenig unterhaltsam wirkt, der im Prinzip logische Aufbau lässt die stereotype Konstruiertheit der Geschichte um so deutlicher aufscheinen und ist dem Spaß an den Bildern eher abträglich.

„Black Love“ von 1971 kehrt zu der fingerschnippenden Leichtigkeit von „Extasies of Women“ zurück, und da es sich hier um eine episodenhafte Fakedoku handelt, kommt Lewis erst gar nicht in die Versuchung, seine Erkundung des Körpers über den Umweg einer (letztlich lahmen) Geschichte anzustellen. Es wäre heute nahezu unmöglich, einen solchen Film zu drehen – auf „streng wissenschaftliche“ Art behandelt er das das Liebesleben der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA und weiß mit schlüpfrigem Humor der Marke „Schulmädchen-Report“ die schlichtesten (Sensations-)Gelüste zu befriedigen. Das simple Motto dahinter: Black love is black art. Darf man bei einem lupenreinen „Mondo“-Film in der Tradition von „Mondo Cane“ und „Women of the World“ die Correctness-Brille anlegen, oder behauptet man damit ohnehin nur, dass der Papst katholisch ist? Nun, das steht jedem frei, aber das kleine bisschen Kritik am Einfluss des Weißen Mannes – Lewis’ Afroamerikaner praktizieren fast ausnahmslos die Missionarsstellung! – könnte ja den einen oder anderen versöhnlich stimmen.

Mit der chic aufgemachten Box eröffnet das Label Vinegar Syndrome einen Einblick in eine für viele noch unbekannte Seite von Lewis’ Filmschaffen, die – eine gewisse Leidensfähigkeit bezüglich Statik vorausgesetzt – wunderbar zu unterhalten weiß. Der unermüdlichen archäologischen Such- und Restaurationsarbeit gebührt dabei ein besonderes Lob. (T.M., U.S.)

Verleih: Vinegar Syndrome Films