Im umfangreichen Werk Current 93s gab es auch nach der Hinwendung zu songorientierten Alben immer wieder Veröffentlichungen, die im weitesten Sinne experimentell(er) genannt werden konnten, wobei solch ein Adjektiv im Zusammenhang mit Tibets Werk sicherlich verkürzt ist und missverständlich sein kann.
Das recht überraschend veröffentlichte „The Stars On Their Horsies“ soll ein „peek“ in das neue, im Oktober erscheinende reguläre Album sein und basiert auf zwei Alpträumen, die Tibet vor einiger Zeit hatte. Die Bezeichnung des One-Track-Albums als „SideShowPeek, or perhaps a GasStationCarnival“ gibt auf gewisse Weise schon einen Hinweis auf die thematisch-musikalische Ausrichtung. Thomas Ligottis Kurzgeschichte „Gas Station Carnival“, die in der (ursprünglich) von Durtro veröffentlichten Sammlung Teatro Grottesco zu finden ist, ist eine besonders gelungene Illustration des Verschwimmens von Realität(en), von Gewissheit(en) und das gesamte Werk des Amerikaners ist geprägt von Texten, in denen Figuren z.B. in “Alpträumen sterben” oder wie S.T. Joshi formuliert: “The focus of all Ligotti’s work is a systematic assault on the real world and the replacement of it with the unreal, the dream-like and the hallucinatory.” Träume bzw. Alpträume haben außerdem schon immer im Werk Tibets eine wichtige Rolle gespielt: Man denke etwa an das „In Menstrual Night“-Album oder aber an „The Dreammoves of the Sleeping King“, ein Stück, das konzipiert war als “soundtrack for a film that Steven Stapleton and I were thinking of making, based on the idea of the lands where dreams went when they died“. Auf „The Frolic“ hieß es: „I have such nightmares and you’re all in all of them.”
„The Stars On Their Horsies“, dieses „laterale“ Album, folgt in der musikalischen Umsetzung, durch seine Kollagierung verschiedener und nur scheinbar disparater Elemente einer (Alp-)Traumlogik – die schließlich auch häufig eher assoziativ-fragmentarischen Charakter hat, wo Motiv(komplex)e und Handlungsstränge plötzlich verschwinden oder in veränderter Form wiederkehren.
Das Album beginnt mit Chorälen, die entfernt an das Frühwerk Current 93s denken lassen, dann setzt Klavier ein, man hört Jahrmarktmusik, die schon auf „Aleph At Hallucinatory Mountain“ auf „As Real As Rainbows“ verwendet wurde, verfremdete Stimmen tauchen auf und man wird an den Beginn von „Imperium III“ erinnert. Inmitten des Stimmengewirrs tönen Glöckchen, so dass man meint The Venerable `Chimed Rig’dzin Lama Rinpoche geselle sich aus dem Jenseits hinzu. Zu dunklen Drones flüstert Tibet Worte, die sich (nur teilweise) erahnen lassen. Dann intoniert er wie ein Mantra die Zeilen „Thirty red horses upon a red hill/Now they stand, now they chant, now they stand still”.
Diesem Album fehlt sicher – dem Sujet geschuldet – die Kohärenz, die zum Beispiel die Arbeiten „In A Foreign Land, In A Foreign Town“ oder „I Have A Special Place For This World“ charakterisierte, aber „The Stars On Their Horsies“ ist m. E. ein wesentlich stärkeres Album als „The Moons At Your Door“, dem Soundtrack zu Tibets Zusammenstellung unheimlicher Geschichten. Vielleicht ließe sich dieses Werk (etwas verkürzt) als „Faust at Bar Maldoror“ passend beschreiben. Dass nach genau 39.39 Minuten dieses somnambule Album endet, ist ein nettes Detail. (MG)
Label: The Spheres