In den frühen Tagen der Menschheit lebte diese ohne nenneswerte Kulturtechniken im Einklang mit den natürlichen Gegebenheiten ihrer Umwelt. Eines Tages jedoch erschienen semi-amphibische Besucher von einem anderen Planeten im Gebiet des heutigen Mali und übermittelten dem Volk der Dogon den ersten Funken intellektueller und spiritueller Weisheit. So kam – zumindest nach einer leicht sci-fi angehauchten Version des Schöpfungsmythos dieser noch heute existierenden Ethnie – die Kultur in die Welt.
In den frühen 70er Jahren kam der Musikproduzent Craig Leon über eine New Yorker Ausstellung erstmals mit diesem von französischen Ethnologen spekulativ in die Welt gesetzten Narrativ in Berührung und imaginierte eine Musik, die seiner Vorstellung nach die archaiche und zugleich futuristische Folklore dieser Besucher gewesen sein könnte, und in der das sicher bewegende Zusammentreffen mit dem homo sapiens seine Spuren hinterlassen haben muss: eine ambiente, mystische, vielleicht durch den Dogon-Einfluss leicht afrikanisch angehauchte Synthesizermusik von sakraler Würde, die in der elektronischen Avantgarde, die gerade im Aufwind war, neue Standards setzte. Seine Interplanetary Folk Musik erschien auf zwei Alben, “Nommos” kam auf John Faheys Takoma Records heraus, später “The Visiting” im Eigenlabel. Beide waren schnell vergriffen und avancierten vielleicht auch deshalb schnell zu gesuchten Kultobjekten, weil Leon schon einen Ruf als graue Eminenz der New Yorker Seventies hatte und einige Meilensteine wie die Debüts von Suicide und The Ramones produzierte. Erst 2014 erschienen beide Platten zusammen und remastert als “Anthology of Interplanetary Folk Music Vol 1″.
Die Geschichte, die die Forcher aus verschiedenen Dogon-Mythen herausdestillierten, schildert allerdings nur den für dieses Volk relevanten Beginn eines Prozesses, der bald einen globalen Zug annahm und dessen Auswirkungen bis heute andauern. Das von den Besuchern übermittelte Wissen verbreitete sich nämlich über Nordafrika bis nach Ägypten, prägte nachhaltig die dortige Zivilisation, wurde in einem Buch zusammengetragen, das heute in englischer Übersetzung “The Canon” heist und erreichte kurz darauf Europa, wo es die griechische Zivilisation hervorbrachte. Was sich wie eine Mixtur aus Dianetik, Lovecraft und der Theorie vom schwarzafrikanischen Ursprung des Alten Ägypten anhört, läuft auf folgenden Satz hinaus: Prometheus kam nicht vom Olymp, sondern aus Westafrika, und das übermenschliche Wissen, das er vermittelte, war nicht gestohlen, sondern im Auftrag aphibischer Aliens weitergegeben.
Auf der “Anthology of Interplanetary Folk Music Vol 2″ mit dem Untertitel “The Canon”, die nur neues Material enthält, präsentiert Leon so etwas wie den Soundtrack zu diesem Gedankenspiel, der trotz des zeitlichen Abstandes nahtlos an den Vorgänger anknüpft: Wie es sich für ein “The Earliest Trace” betitelten Opener ziemt, verschwimmen seine Formen im Nebel der Vor- und Frühgeschichte, doch aus dem verweht-verhallten echo eines Chores und den Spannungsmomente zischelnder Becken kristallisiert sich irgendwann ein verträumtes Dröhnen, dessen sandige Rauheit in das dramatische Vibrieren der folgenden Stücke übergeht. Holziges, geradezu grooviges Handdrumming und chilliges ambientes E-Piano nach Art der Thievery Corporation übernehmen die Führung, und doch liegt ein Summen in der Luft, welches all dies umfängt und wie das Detail einer Kosmogonie erscheinen lässt, in der aufwühlende Stakkatobeats auf himmlische Schwebeklänge treffen und wavige Synthies mit dem Sound eines Cembalo fusionieren und gar nicht anders können, als so etwas zwiespältig vertracktes wie unsere Zivilisation hervorzubringen.
Leons augenzwinkernde Spekulationen sind v.a. eines: großes Kopfkino, bei der ein manchmal bizarrer, aber zugleich traumhaft schöner Synthiescore erklingt, während im Zeitraffer mehrere tausend Jahre Menschheitsgeschichte vor dem Auge vorbeihuschen. Darüber hinaus sind sie ein kreativer Anstoß dazu, weder offizielle, noch alternative Geschichtsmodelle allzu ernst zu nehmen. (U.S.)
Label: RVNG Intl.