Die britische Sängerin und Multi-Instrumentalistin Angeline Morrison, die manchmal, wenngleich immer noch solo, mit dem Zusatz The Ambassadors of Sorrow auftritt, präsentiert mit ihrem bereits vor zwei Jahren digital und vor kurzem auch physisch veröffentlichten Album “Ophelia” eine außergewöhnliche Songsammlung, die sie über mehrere Jahre hinweg geschrieben und aufgenommen hat. Morrison, die in Cornwall lebt, beweist mit diesem Werk eine unvergleichliche künstlerische Reife und eine tiefe Hingabe zur melancholisch-verträumten Seite des Lebens und auch der britischen Folktradition. In ihrer Musik schwingt die geheimnisvolle, spukhafte Englishness eines subtilen Folk Horror mit, die das Album wie ein Schatten begleitet und einen Eindruck der Einsamkeit und des Unheimlichen vermittelt.
“Ophelia”, benannt nach der tragischen Frauenfigur aus Shakespeares längster Tragödie, führt den introspektiven Ansatz fort, den Morrison bereits mit vorherigen Alben “The Brown Girl and other Folk Songs” und “The Sorrow Song” eingeschlagen hat. Während jene Alben immer wieder auf die Erfahrungen von People of Color in Großbritannien zurückkommen, bewegt sich “Ophelia” in einer eher introspektiven Geisterwelt, bleibt jedoch gleichsam von Morrisons einzigartiger Perspektive geprägt. Jedes Stück auf dem Album stammt aus ihrer Feder – sie schrieb, arrangierte, spielte und produzierte alle Songs selbst. Die Vielzahl an Instrumenten, die sie meisterhaft beherrscht, verleiht dem Werk eine aufgrund der Dezentheit der Musik zunächst fast überhörbare, bei entsprechender Aufmerksamkeit allerdings unverwechselbare klangliche Vielfalt: Morrison lässt Gitarre, Kalimba, Dulcimer, Melodica, Shruti Box, Klavier und mehr in sphärischen Arrangements erklingen.
Das Album eröffnet mit “Clouds Never Move”, einem stimmungsvollen Lied mit Vogelgezwitscher und sanften Kalimbaklängen. Morrison beschreibt diesen Song als schlafliedartig, und in der Tat verleiht ihm der provisorisch wirkende, unpolierte Gesang eine fast schon kindliche Ruhe. Die Geschichte hinter dem Stück berührt, da Morrison es ursprünglich 2020 nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd veröffentlichte. “Sie sagte, die Wolken bewegen sich nie,” heißt es im Text, eine Metapher für ein Gefühl der Starre und des Stillstands in Zeiten von Verlusts und Trauer. Der Titelsong ist ein hypnotisches Stück, das in eine traumhafte Unterwasserwelt führt. Mit einer zarten Gitarrenmelodie in feinstem Fingerpicking sowie Morrisons stellenweise gehauchter Stimme, vermittelt das Stück die tragischen Gedanken der längst zu ihrem eigenen Mythos gewordenen Figur, die sich ihres Untergangs bewusst ist. “Vielleicht werden sie Harfen aus meinen Knochen machen,” singt sie – eine schaurig-schöne Vorstellung, die einen tieferen Einblick in Morrisons persönliche Auseinandersetzung mit Fragen der Vergänglichkeit, aber auch des Nachlebens gibt, und wer darin auch eine Brise dunklen Humors sieht, könnte recht haben.
Mit “He Comes in the Night” erreicht das Album einen Höhepunkt an düsterer Intensität. Etwas von dem Klang von Harmonium-Wellen trägt Morrisons schattenhaft-schaurigen Gesang, und sie selbst beschreibt das Stück in ihren ausführlichen Liner Notes als “eine Art liebevolles Memento an das Unheimliche und das Geisterhafte”. Ihre Stimme verdoppelt sich in einem Duett mit sich selbst und lässt die Melodie noch geheimnisvoller und tiefer wirken. “The Fat Lady Sings” ist von einem Gedicht aus Morrisons Kindheit inspiriert und eine direkte Antwort auf Frances Cornfords “To a Fat Lady Seen from a Train”. Morrison gibt der vermeintlich “dicken Dame” eine Stimme und schildert sie in einer ganz eigenen Naturerfahrung, von der die Autorin des Originals nichts wissen konnte. Das einfache Gitarrenspiel zusammen mit dem Dulcimer und die nachdenkliche Note lassen an die entrückten Songs von Trappist Afterland denken, auf deren jüngster Platte Morrisons Stimme zu hören ist.
Jeder der eher kurzen Songs auf “Ophelia” ist ein eigenständiges kleines Werk und zeugt auch in lyrischer Hinsicht von Morrisons poetischem Geschick. “Hours of Sunlight”, inspiriert von einem Buchrücken von Francoise Sagan, kreist um die Schwierigkeiten menschlicher Kommunikation und ist ein zartes, liebevolles Stück. “Bright Blessings”, getragen von einem dunklen Dröhnen, wirkt wie eine Segnung für einen geliebten Menschen, der einen anderen Weg eingeschlagen hat und so in die Ferne gerückt scheint. Morrisons Musik ist oft trostreich und spiegelt gleichsam die Abgründe wider, die hinter jeder liebevollen Melodie lauern können. Zum Abschluss singt Morrison in “Almost But Not Quite” mit freundlicher Melancholie und vom leichtn Klang der Autoharp begleitet über den bittersüßen Moment des Abschieds und die Erkenntnis, dass ein Traum oder eine Liebe nie ganz erfüllt werden konnte. Doch auch hier wirkt das trostreiche Bild wie ein freundlicher Geist, der den Hörer heimzusuchen scheint.
Auf genau diese Weise hat Angeline Morrison ein Album geschaffen, das sich wie ein unsichtbarer Begleiter ins Herz schleicht und dabei doch eine Schwere und Tiefe offenbart, die einen nicht so schnell loslässt. Als eine der wichtigen neuen Stimmen in der britischen Folkmusik sollte Morrison unbedingt auch hierzulande eine gebührende Beachtung finden. Ein neues, an “Ophelia” anknüpfendes Album voller alchemistischer Songs soll übrigens schon im Entstehen sein. (U.S.)