Würde man die wichtigsten Italo-Folker auf einer Skala einordnen, die von „psychedelisch schräg“ bis „glasklar nostalgisch“ reicht, so wären ARGINE aus Bella Napoli recht nah beim letztgenannten Pol anzuordnen. Mit der (mich nur bedingt überzeugenden) Terminologie aus Rigobert Dittmanns Essay „Heldendämmerung“ gesprochen, sind sie viel eher Idealisten als Nihilisten. Argine mit ihrem kraftvoll-punkigen Vorzeige-Neofolk sind nach sechs Jahren wieder da, und sie machen ihre Sache leidenschaftlich gut. Man muss allerdings dazu sagen, dass sie sich recht eindeutig einer Musik verschrieben haben, deren Hochzeit in den 90ern lag. Wer Solches mit ungebrochenem Enthusiasmus liebt, erst neu kennenlernt oder schon für retrowürdig hält, der darf die folgende Beschreibung als Empfehlung betrachten.
Ein etwas langes, verträumtes Intro aus dezentem Gitarrenpicking entführt den geneigten Hörer in eine Sphäre, die in der besagten Zeit nicht nur ein Gegenprogramm zur allseits gehassten Spaßgesellschaft bot, sondern auch gegen die Verflachungserscheinungen bekannter Alternativkultur: Konsumgothics mit ihren Hochglanzpostillen erschienen vielen Feinsinnigen irgendwann ebenso reizlos wie der damalige Indie-Kosmos mit seinem oft aufgesetzten Toleranzgehabe und den immergleichen Gymnasiasten in Batik. Das Gegenprogramm setzte dezidiert auf Pathos statt Ironie, auf schlichten Schick statt Auffallen um jeden Preis und auf eine mal provokant gemeinte, mal sinnsuchende Umarmung dessen, was als „reaktionär“ galt. Freilich suchte das Gespenst des Schalen und Immergleichen irgendwann auch diese Szene heim, zeigte die Grenzen ihrer Variationsbreite auf, ihre Schwierigkeit, anderswo anzudocken und neue Stilallianzen einzugehen, bis das Ganze dann doch hauptsächlich als monatliche Discoveranstaltung für die Unermüdlichen fortbestand, ohne großen Zuwachs, aber auch ohne die Spötter, die nach und nach die Lust am Lästern und Kritteln verloren. Die alte Leier im Grunde, die man nicht dauernd wiederholen muss, vor allem auch weil die vier Italiener, deren Bandname “Ufer” bedeutet, das Ganze mit einem Esprit und einer Frische wiederbeleben, die Lob verdient.
Argine haben sich auf „Umori D’Autunno“ – fast passend zum Veröffentlichungsdatum – dem Herbst verschrieben, den Schatten, den die trüberen Monate nun bald auf verwehte Blätter und mossüberwucherte Statuen werfen werden und den charakteristischen Stimmungen („Umori“) der Jahreszeit. So etwas könnte komplett wehmütig-betulich ausfallen, muss es aber nicht, und die Neapolitaner lassen eine rein nostalgische Stimmung nur für gut dosierte Augenblicke aufkommen. Vielmehr zeigen sie, dass ihre Art von Folk schön, aber zugleich auch treibender Postpunk sein kann, so beispielsweise in „Novecento“, dessen von Snaredrumming getragener Beat jugendliche Rebellion und Military Chic in sich vereint. Vielleicht ist mit dieser Aufgewecktheit auch der Rückkehr zur Normalität Ausdruck verliehen, die sie (laut Bandinfo) in der Zeit nach den faulen, verträumten Sommertagen sehen.
Der ergriffene, elektrifizierte Gesang Corrado Videttas in der mir fremden Sprache trägt einen Großteil der Atmosphäre, wirkt infizierend und prägt die meisten Stücke. Der Verzicht auf weibliche Vocals macht dabei den größten Unterschied zu früheren Aufnahmen aus. Gitarre und Schlagzeug kontrastieren mit wehmütigem Streichereinsatz und Glockenspiel, nur gelegentlich wirkt der Gitarrenanschlag allzu typisch. Heraus ragen hörspielartige Abschnitte, bei denen sich verspielte Instrumentensoli und derangierte Glockenklänge verselbständigen, mysteriöse Samples kommen hinzu. An manchen Stellen wirkt es fast noisig, doch schon um die nächste Ecke verführen barocke Violinen, die Schönheit von Ruhe und Verfall zu betrachten.
Nochmals, Argine spielen mit Herzblut postpunkigen Darkfolk, ohne Psychedelic, ohne Kabarett wie ROMA AMOR, ihre Landsleute aus einer nördlicheren Provinz. Als opus magnum der Band gilt übrigens „Luctamina in Rebus“ von 2001, und „Umori D’Autunno“ knüpft gerade dort an. Auf schlechten Kopfhörern gehört, fällt die verbesserte Aufnahmequalität kaum ins Gewicht, und man könnte, trotz der diesmal nur männlichen Vocals, die unterschiedlichen Lieder für Stücke aus einer Aufnahmesession halten. (U.S.)