aTELECINE: …and six dark hours pass

Es gibt den Begriff des Halo-Effekts, der die Auswirkungen, die ein Element auf ein weiteres hat, beschreibt (z.B. wie einzelne itemsin einem Fragebogen einander beeinflussen). Auch im künstlerischen Bereich könnte man davon sprechen, wenn ein in einem Medium bekannter Künstler sich an etwas anderem versucht. Wie viele Menschen würden sich z.B. für die Gemälde Bob Dylans interessieren, gäbe es da nicht seine Jahrzehnte andauernde Karriere als Musiker, ähnliches ließe sich bzgl. Paul McCartneys fragen. Es ist vielleicht müßig darüber zu spekulieren, aber wahrscheinlich fände ohne die auditive Hilfe der visuelle Output nicht so schnell den Weg in Galerien und Museen.

Auch aTelecine dürfte weitaus weniger Aufmerksamkeit zuteil werden, wäre da nicht Sasha Greys Karriere im Pornogeschäft, die filmischen Ergüsse (man verzeihe mir das Wortspiel) der umtriebigen  22-jährigen Kalifornierin. Was die Musik des aus Grey, Pablo St. Francis und Anthony D’Juan bestehenden Projekts interessant macht, ist, dass hier kein Italodisco, Kirmestechno oder ähnliche Genres beackert werden, sondern der Einfluss experimenteller Musik und der industrial culture fortwährend deutlich wird. Will sagen: Der durchschnittliche Pornokonsument dürfte wenig Spaß mit den auf diesem Album enthaltenen Klängen haben. Ob das nur ein weiteres Mosaikteilchen der oftmals strategisch cleveren (wenn auch manchmal etwas offensichtlichen) Selbstinszenierung Greys ist, durch die sie aus der Masse der anderen (Darstellerinnen) herausragen will oder nicht, sei dahingestellt.

Nach der 2009 erschienenen 7’ (deren 500 Exemplare ausverkauft sind und inzwischen zu recht saftigen Preisen angeboten werden) folgt nun das (eigentlich) zweite Album, was aber wegen Verzögerung der Veröffentlichung des Debüts von der Chronologie das erste ist.

Das Album beginnt mit „Night November“, einer kurzen Melange aus Sprachsamples, Bass und Noisespuren. Das lange „Puget“ ist ein auf Loops basierendes Stück, das von Klang und Struktur etwas an spätere Premature Ejaculaton-Veröffentlichungen erinnert. Der Track ist für die Länge wenig variabel, insgesamt weniger konfrontativ als dezent beunruhigend. Das umständlich betitelte „Sky then trees then birds then nothing“ beginnt mit Geräuschen, die an wehenden Wind erinnern, bevor bedrohliche Keyboardtöne einbrechen, die aber bald  von harmonischen Melodien abgelöst werden, die dann auch wieder in atonalen Dark Ambient-Passagen untergehen, bevor es gegen Ende im Rahmen dieses Albums recht krachig wird. Der Track hat – auch bedingt durch seine Mehrteiligkeit –  einen gewissen Soundtrackcharakter (der Titel von Greys Projekt und ihre Herkunft machen ein Interesse am Film natürlich mehr als deutlich; auch in den Linernotes heißt es, das Album sei der Soundtrack eines Films gleichen Namens). „Very small friends“, das erste Stück auf der B-Seite, knüpft von Stimmung und Aufbau etwas an “Sky then…” an; man hört stark verfremdete Stimmen, Sprachsamples, insgesamt hat der Track improvisatorischen Charakter, nicht im Sinne von Free Jazz –  sondern natürlich verstanden im Rahmen des weiten Felds des (Post-) Industrials.  “Armour (cut)“ basiert wieder auf Loops und ist relativ monoton, bevor das Album mit „Sixth Pass“, dem elegischsten Track, der  mit seinen verhallten Gitarrentönen an eine Lo-fi-Version von Earth erinnert, ausklingt. Ein insgesamt trotz einiger Längen interessantes Album, das durch die Covergestaltung unter Verwendung von Zeichnungen des französischen Graphikers und Comickünstlers Frédéric Poincelet trotz nackter Frauen und Bondagebild auf dem Cover  recht seriös wirkt (man denke auch an Greys Mitwirkung in Steven Soderberghs „The Girlfriend Experience“). Die drei Musiker knüpfen auch musikalisch weniger an die transgressiven Schockmomente des Industrials an, die sowieso heutzutage arg anchronistisch und plakativ wären, vielleicht ist ihr Bezug auf die Geschichte eher so zu verstehen, dass  sie ihren Beitrag als „Musik der Unbefugten“ (Günter Brus) betrachten. Wie stark der Halo-Effekt bezogen auf dieses Album ist, muss jeder selbst entscheiden.

(M.G.)

Label: Dais Records