Über EVELYN EVELYN sind im Vorfeld schon viele Worte verloren worden, für Neueinsteiger sei der Stand der Dinge noch einmal kurz rekapituliert: Evelyn Evelyn sind Amanda Palmer und Jason Webley, erstere auch als Sängerin bei THE DRESDEN DOLLS bekannt, letzterer ein Folkvirtuose an verschiedenen Instrumenten und vielleicht so etwas wie die amerikanische Antwort auf POEMS FOR LAILA. Unterstützt werden sie von einer ganzen Reihe an Backgroundsängern und anderen Musikern, zu denen auch „Prominenz“ wie Andrew WK und Cobain-Tochter Frances Bean zählt. Vor einiger Zeit kursierten von dem Projekt Songs im Netz, dazu Texte und Fotografien, die ein sogenanntes „siamesisches“ Zwillingspaar als Urheber der Musik auswiesen. Die Namen der fiktiven Schwestern sind Eve und Lyn Neville, und laut Fama kamen die beiden in den 80ern auf einer Farm in Kansas zur Welt und sind eine zeitlang mit einer Freakshow durch die Lande gezogen. Palmer und Webley galten als die Entdecker und Protegees der beiden.
Es dauerte natürlich nicht lange, bis die Herausgeberfiktion als solche enthüllt wurde, was einen bei Amandas Stimme auch keineswegs wundern muss. Die vielerorts diskutierten Rechtsstreitigkeiten mit einem früheren Label um den Namen Dresden Dolls sind als möglicher Grund dafür angeführt worden, primär schätze ich die ganze Aktion allerdings als lustvoll zelebriertes Versteckspiel ein, das der Musik einen zusätzlichen Reiz verleiht. Rein musikalisch bietet die CD fast so etwas wie den Ausweg aus einer sich anbahnenden Krise, denn der keineswegs reizlose Dresden Dolls-typische Mix aus Kabarett und Punk, aus Zylinderhut und Ringelsöckchen, erwies sich über die Jahre doch als weniger variabel als anfangs vermutet. Zumindest schlug bislang alles in die stilistische Kerbe des Debüts und ließ dennoch die Verzweiflung von „Half Jack“ und den doppelbödig-spielerischen Frohsinn von „Coin Operated Boy“ vermissen. Näherte sich das Solowerk „Who Killed Amanda Palmer?“ fast Singer-Songwriter-Qualitäten an und setzte auf reduzierte Dynamik (was in erster Linie daran lag, dass das punkige Schlagzeug an Bedeutung verlor, dafür wurden die Streicherparts opulenter), so tauchen Evelyn Evelyn noch tiefer ein in die Welt seltsamer Varietés und anderer erotisch angehauchter Kleinkunst einer vergangenen Zeit, die ja schon den Vintage-Faktor des Stammprojektes ausmachte. Wie auf dem Solodebüt wird hier größtenteils auf den Crossover der Dresden Dolls verzichtet, zugunsten eines Versuchs, mit der Instrumentierung aus Piano, Akkordeon, Ukulele, Gitarren und diversen Streichern „authentisch“ zu klingen. Das gelingt ihnen natürlich keineswegs, dazu ist zumindest eine Hälfte zu sehr mit Leib und Seele Popper und hat Postpunk und Vintage-Goth derart im Blut, dass man es einfach heraushören muss, selbst wenn es weniger offensichtlich ist. Was aber wiederum nicht heißen soll, dass bei ihrem Versuch nichts Interessantes herausgekommen ist.
Das Album ist in seinem Aufbau erzählerisch, die Basis bieten „Magic“ bzw. „Tragic“ genannte soundscapeartige Hörspielpassagen, welche die Lebensgeschichte von Eve und Lyn in den Kontext zeitgeschichtlicher Ereignisse einbetten, die aber auch schon um die Sympathie des Hörers für die Heldinnen werben – eine weitere klassische Authentisierungsstrategie, wie sie die Literatur seit dem 18. Jahrhundert kennt. Sind diese Abschnitte eher breit angelegt, geben die eigentlichen Songs einen zoomartigen Einblick in skurrile wie berührende Ereignisse aus dem Leben der beiden. Berührend ist besonders der Titelsong – wenn man die mit den Dresden Dolls gerne assoziierte lässige Weirdness und den vordergründig so betulichen Walzertakt erst einmal vergessen (oder je nach Gusto auch einfach als Gegebenheit hingenommen) hat, und der Song in die verzweifelte Frage “Why don’t you leave me alone?” gipfelt, dann wird das ganze “Conjoined”-Motiv zu einem radikalen Symbol für unumgehbare Abhängigkeit. Das heißt allerdings nicht, dass etwa mit derbem Humor gespart werden würde. Bei dem Ragtime-beeinflussten Showtune „Have You Seen My Sister Evelyn?“ sorgt sich eine der beiden um die Liebeseskapaden ihrer Schwester, die Countryballade „You Only Want Me ‘Cause You Want My Sister“ beschäftigt sich auf augenzwinkernde Weise mit der Frage der Eifersucht. Erwähnt man jetzt noch den Tango „Chicken Man“, bei dessen Gesang der Begriff Onomatopoesie eine neue Dimension bekommt, und die bei der Thematik provokante Buchstäblichkeit des in eine Art Polka verwandelten JOY DIVISION-Klassikers „Love Will Tear Us Apart“, stellen sich zwei Fragen: Verträgt eine Konzeptplatte so viel musikalisches Genre-Mix, und ist die ganze burleske Freakshow am Ende vielleicht moralisch doch ein bisschen over the top? Lässt sich ersteres mit „ja“ beantworten, ist der zweiten Frage ungleich schwieriger zu begegnen. Es gab lange Gesichter, die der Band unterstellten, sie würde sich über Menschen wie Eve und Lyn lustig machen. Palmer und Webley haben das (selbstverständlich) verneint, und ohne den Mythos einer angeblich nur auf Doppelmoral basierenden political correctness nähren zu wollen, sei hier vielleicht nur die simple Gegenfrage gestellt, ob denn eine humorvolle, rührende, stilisierte und dennoch ungeschminkte Geschichte über siamesische Zwillinge, die sich selbst an keiner Stelle zu wichtig nimmt, wirklich diskriminierender sein kann als ein zwanghaftes Tabu, welches ein solches Thema auf einen bierernsten Problemdiskurs reduzieren will. (U.S.)