Innerhalb des populärkulturellen Bewusstseins wird die Rubrik “Folk” heute wohl eher von amerikanischen Vertretern ausgefüllt. Warum das so ist, könnte der Stoff für lange Überlegungen sein. Vielleicht stehen die meisten Musikkonsumenten der amerikanischen Kultur einfach näher als der englischen, sei es im Guten oder im Schlechten. Vielleicht gibt es im amerikanischen Raum aber auch einfach mehr ambitionierte Labels, die sich relevanten Neuerungen auf dem Gebiet traditioneller Musik widmen. An einem Mangel an interessanten englischen Folkmusikern kann es jedenfalls nicht liegen. Unter anderem zeigte dies vor einigen Jahren eine Compilation namens “John Barleycorn Reborn”, auf der sich auch ein Song der noch jungen Band SAND SNOWMAN befand.
SAND SNOWMAN ist das Projekt eines Menschen namens Sand, der sich selbst einen griesgrämigen Winterschläfer nennt und seit ein paar Jahren eine Schar illustrer Weggefährten ins Boot holt, um zusammen eine Reihe äußerst verwunschener Klänge hervorzuzaubern. Eine geheimnisvolle Sängerin namens Moonswift gehört dazu, ebenso ein etwas bekannterer Herr, der für die Elektronik zuständig ist – kein Geringerer nämlich als Steven Wilson, Betreiber des experimentierfreudigen Klangzauberprojektes BASS COMMUNION, bedient die Regler. Ihm ist es wohl auch zu verdanken, dass Sands Musik beim Beta Lactam Ring-Label untergekommen ist, das bezeichnenderweise jenseits des Atlantik zuhause ist.
Ein Blick auf die Trackliste des zweiten Albums „Nostalgia Ever After“ lässt ein mythisches Grundinteresse der Band erahnen, sicher auch einen Hang zur dichterischen Romantik, und wenn es sein muss, dann scheut man auch nicht vor ein bisschen Kitsch zurück. Das Rad des Jahres wird beschworen, die Ewigkeit im Zyklus von Werden und Vergehen besungen. Natursymbole, vor allem Blumen prägen Teile des Bildes, bereitwillig gepackt in blumige Nostalgie. Die Flamme, die Wellen, die schlafende Stadt bilden die bevorzugten Symbole des Schneemannes. Musikalisch dominiert ein durchgehend besinnlicher Ton, und das Resultat sollte genau das richtige sein für Hörer, die einst den zerbrechlichen Klängen von IN GOWAN RING verfallen sind, die ESPERS vielleicht noch etwas andersweltlicher mögen würden oder ein Faible für naturverbundenen heidnischen Folk urenglischer Prägung haben, für Bands wie ORCHIS und deren zahlreiche Verwandten.
Den Texten hingegeben bemerkt man schnell, dass es sich bei der Bildverwendung der Briten keineswegs um die Beschwörung eines trivialen Idylls handelt, und auch die Klänge sind trotz ihrer Besinnlichkeit nicht frei von Brechungen und spröden Elementen aller Art. Des öfteren umschwirrt allerlei unaufgeräumte und gleichsam durchdringende Perkussion die lieblichen Gitarren und den verhuschten Sopran der Sängerin, der bisweilen an JOSEPHINE FOSTER erinnert. Dass etliche Nebengeräusche bei der Aufnahme nicht herausgemischt wurden verleiht dem Klangbild zusätzlich eine ungezwungene und angenehm amateurhafte Live-Atmosphäre. An manchen Stellen unterstützt ein cooler, fast jazziger Bass die Urtümlichkeit des Klangbildes, während er zugleich der schönen und poppigen Seite entgegen wirkt.
“Nostalgia Ever After” rührt an einige bekannte Strukturen – mal mag man sich an Filmmusik der 70er erinnert fühlen, mal an geheimnisvolle mittelalterliche Musik, die hinter verschlossenen Türen ihren ganz eigenen Zauber entwickelt hat – schön, beinahe zu schön, wenn da nicht der spröde Gesang wäre. Wünschen wir Sand mal einen guten Winterschlaf – in der Hoffnung, dass er uns im nächsten Herbst erneut mit den Früchten seiner Grießgrämigkeit erfreuen wird. (U.S.)