Es sind wahrscheinlich noch nicht viele (echte) Hühner in einem Hotelzimmer gestorben, aber ein amerikanisches Federvieh namens Mike hatte 1947 dieses zweifelhafte Vergnügen. Sein Tod beendete eine kurze Karriere als Zirkusattraktion und drehte seinem Besitzer, einem Farmer aus Colorado, jäh seinen unerwarteten Geldhahn zu. Das besondere an Mike dem Hahn war, dass er keinen Kopf hatte, denn der wurde ihm eines Abends abgeschlagen, als die Schwiegermutter ihren Besuch ankündigte und in den Genuss eines deftigen Brathähnchens kommen sollte. Im Unterschied zu etlichen seiner Artgenossen lebte Mike nicht bloß für einige Minuten weiter, sondern für anderthalb Jahre. Bauer Lloyd hatte mit dem Axthieb etwas zu weit oben angesetzt, und ein wesentlicher Teil des Stammhirns blieb am Nacken des Tieres kleben. Dem Organismus reichte das anscheinend aus, und man konnte das Tier mit einer Pipette ernähren.
Die Story klingt wie eine moderne Legende oder wie der Plot eines Cartoons. Ob es sich um eine bloße Finte handelt, typisch für ein Land, das laut Baudrillard Disneyland nur ins Leben gerufen hat, um darüber hinweg zu täuschen, dass es auch jenseits seiner “most happy places” fiktiv und artifiziell ist, will ich nicht beurteilen – offiziell ist die Geschichte wohl mehrfach verbrieft. In den Monaten zwischen der Enthauptung und der Nacht, als Mike wie später Bon Scott von AC/DC an seinem eigenen Speichel erstickte, wurde er zeitweise so populär, dass andere Farmer massenweise versuchten, ihre Hühner „falsch zu köpfen“, um sich auf die Tour noch etwas dazu zu verdienen. Vergeblich, und zugleich normale Härte in einer Welt abstruser Realsatiren. Kein geringerer als Dither Craf, der als Musiker für gewöhnlich mit seiner Band Mushroom’s Patience einen legendären MonsterSpaghettiPsychRock spielt oder mit seinem „Lifeless Orchestra“ etwas folkiger unterwegs ist, hat soeben eine Lanze gebrochen für die Unsterblichkeit des guten Mike, und wer den Römer, den manche Raffaele Cerroni nennen, kennt, der weiß dass es keinen besseren geben könnte, um sich dieses Themas anzunehmen.
Crafs Hommage ist von leiser, unaufdringlicher Natur, und falls es überhaupt eine Intention gibt, außer der Verwunderung über die abstruse Story Ausdruck zu verleihen, dann könnte man fast die triste Tragikomik gespiegelt sehen, die diese Groteske durchzieht, über die man schmunzeln muss, und die doch am Ende berührend ist. Und ein Stück Bewunderung ist das Ganze sowieso, denn die Widerstandsfähigkeit des seltsamen Vogels, der auch durch die fatalsten Umstände nicht tot zu kriegen ist, muss Craf fasziniert haben. Zusammen mit seinem leblosen Orchester trug dieser auf seinem letzten Album eine seiner Lieblingsfiguren, den Reverend Rufus Funk, zu Grabe, und wer den schlichten Folksound bereits reduziert und minimal fand, dem sei gesagt, dass dieses Konzept hier noch radikaler durchgezogen wird. Dither Craf solo, das bedeutet 2011 verträumte Folkgitarren, relaxte Bluesmeldien und zwischendurch so etwas wie eine Slideguitar, die an eine Country & Western-Musik erinnert, wie sie vielleicht von Zeit zu Zeit auf der Farm ertönt sein mag, auf der Mike sein Dasein fristete. Musik, die so schlicht ist wie eine Story, die sich überhaupt nicht bemüht, reißerisch, hip und originell zu sein – so wie Crafs Musik ohnehin alles andere als „bemüht“ herüberkommt, sondern verspielt und auf anrührende Art ziellos.
Was man vergeblich sucht, sind Worte – außer auf der Trackliste, und die erzählt einiges: Mike begibt sich auf große Reise, doch statt Zirkusmanegen und schäbiger Hotels erlebt er spannende Geschichten, wird Zeuge der Ermordung einer ominösen Mrs. Wuorons, besucht das Grab des besagten Reverend, legt zu allem Überfluss sogar ein Ei und wird einmal von Crafs Musiker-Held John Fahey gerettet. Zum Score dieses Schelmenromans gesellt sich mit der Zeit allerlei Störendes hinzu: Seltsam mechanisch klingende Vögel aus dem Funk-Universum, Gitarrenakkorde, die sich in einem Loop verfangen haben, merkwürdiges Knacken und bedrohliches, schabendes Röcheln.
Doch alles in allem ist die Welt in Ordnung, denn Mike lebt, und Craf ist ebenfalls so vital wie selten – ob mit oder ohne sein lebloses Orchester, ob auf Tonkonserve oder auf seinen Konzerten, wie jüngst auf den Kalyug-Festival. Man munkelt sogar, dass man ihn in Zukunft öfter in Deutschland sehen wird. (U.S.)
Label: Atro.Fact