Sieht man sich heute das Video zu „Wuthering Heights“ an, Kate Bushs Debut-Erfolg der späten Siebziger, steht man vor einem Rätsel. Die junge Sängerin, äußerst kreativ geschminkt, hüpft mit kindlich aufgerissenen Rehaugen, ausdrucksvoll die Arme schwenkend, über eine englische Weide, gehüllt in ein knallrotes Flatterkleid, das sie wohl zum potentiellen Zielobjekt sämtlicher in der Nähe grasender Stiere macht. Dann beginnt sie auch noch, im jugendlich überspannten Quetschsopran die Namen der Protagonisten aus Emily Brontes berühmtem viktorianischen Roman in den Wind zu rufen. Mit dieser Selbstpräsentation soll Kate Bush in der kühlen New Wave-Ära einen Nummer-Eins-Hit gelandet haben, noch dazu den ersten, der gleichzeitig von einer Frau selbst geschrieben und interpretiert wurde? Es geschehen eben noch Zeichen und Wunder, und manchmal setzen Eigensinn und Schrulligkeit sich dort durch, wo man es am wenigsten erwartet.
Dem Debut „The Kick Inside“ folgten einige Alben unterschiedlicher Qualität, Ms Bush wurde bekannt für exzentrische Bühneninszenierungen, bevor diese zum Standardinventar des Popstarrepertoires gehörten. Auch darin war Kate Bush eine Vorreiterin, ebenso wie im sich anschließenden radikalen Rückzug zur Wahrung der Privatsphäre und dem Ruf der unabhängigen Künstlerin, die nur das macht, was ihr in den Kram passt, statt sich um Konventionen des Business zu kümmern.
Folgerichtig wurde es still um Kate Bush, sehr still. Länger als eine Dekade. So lange, dass sogar ein Roman über ihre Inaktivität und das Warten eines treuen Fans auf ein neues Album verfasst wurde (John Mendelssohns „Waiting for Kate“). Als dieses Album, betitelt „Aerial“, schließlich erschien, konnte es schon aufgrund der langen Wartezeit nicht ganz den sich proportional steigernden Erwartungen gerecht werden. Hübsche Melodien und Arrangements, Klavier, Synthesizer und Vogelgezwitscher, aber nichts, was wir nicht schon einmal von ihr gehört hätten. Kate Bush ließ das natürlich, wie immer, unberührt.
Nun liegt „50 Words for Snow“ vor und ist – nachdem auch die Wartezeit weniger als halb so lang war wie bei der letzten Platte – nur halb so enttäuschend wie „Aerial“. Das liegt aber auch am radikal abgespeckten Sound: Statt auf Üppigkeit und Synthesizer setzt Kate Bush auf Klavier, ihre (mit der Zeit etwas tiefer gewordene) Stimme und, an ausgesuchten Stellen, auf dezente Streicher. So entsteht ein fast kammermusikalisches Album, das vom Hörer ungeteilte Aufmerksamkeit verlangt und vereinzelt Jazzeinflüsse in die hauseigenen rhythmischen Strukturen integriert. In sehr gedrosseltem Tempo tupft die Sängerin einige minimalistische Klaviertöne an, begleitet von ihrem ausdrucksstarken Gesang. Beim Duett mit Stephen Fry wird dieser dazu verdonnert, sich 50 (teils sehr kreative) Synonyme für Schnee auszudenken. Die Stimmung ist von Anfang bis Ende kontemplativ bis leicht melancholisch, als blicke Kate bei Kerzenlicht, Duftöllampe und Kräutertee in einem einsamen Zimmer tief in ihre Seele.
Inzwischen haben sowohl ihr musikalisches Prinzip als auch ihre Do-it-yourself-Attitüde Schule gemacht: Tori Amos, aber auch jüngere Künstlerinnen wie Soap & Skin und Joanna Newsom wären in diesem Zusammenhang zu nennen. Mit „50 Words for Snow“ ruft Kate Bush dem Publikum in Erinnerung, wer der Schar der jungen Epigoninnen den Weg bereitet hat – mit vollem Körper- und Stimmeinsatz, im roten Kleid, damals – auf der englischen Kuhweide.
Lässt man vorangehend angestellte, sich bei einer so illustren Interpretin unweigerlich aufdrängende Überlegungen außer Acht, bleibt immer noch ein äußerst intensives, wohlig-düsteres Album übrig, das man nach einigen Eingewöhnungsdurchläufen in seinem Piano-Minimalismus nicht mehr missen möchte. Schließlich sollte sowieso, statt der Persona der Interpretin, die Musik im Vordergrund stehen, und im Fall von „50 Words for Snow“ tragen die Songs allesamt, ohne Ausfallerscheinungen, durch die verschneite Winternacht bis zum Morgenlicht.
M. Reitzenstein
Label: Noble & Brite