GRIMES: Visions

So ganz ohne Hipster geht es anscheinend auch bei uns nicht, aber so lange man das mit dem altehrwürdigen Londoner Traditionslabel 4AD gemeinsam hat, kann nicht allzu viel falsch daran sein. Die haben nämlich vor kurzem die Kanadierin Claire Boucher a.k.a. Grimes unter Vertrag genommen – anlässlich ihres dritten Lonplayers „Visions“, der zur Zeit Lob aus allen Richtungen bekommt und dessen Cover ebensogut den zweihundertsten Konzertmitschnitt von Aaron Dilloway zieren könnte.

Dass die junge Sängerin wiederholt mit Schlagworten wie Witch House oder Chill Wave in Verbindung gebracht und als die solidere wie marktfähigere Folgeerscheinung solcher Phänomene präsentiert wird, ist sicher nicht nur auf ihre (übrigens unaffektierte) Exzentrik zurück zu führen, sondern auch auf ihre Engführung von Retrosynthies und Black Music. Vielleicht auch auf die Vorschnelligkeit von Assoziationen, denn „Visions“ hat – wie übrigens sämtliche zurückliegende Aufnahmen, die mir bekannt sind – weder zombifizierte Handclaps noch trockeneiskompatible Pseudomystik vorzuweisen, ist mit seinen „Just Can’t Get Enough“-Beats, seinem housigen Synthieknistern, seinen sporadischen Noisemomenten und seiner gehauchten Laszivität immer noch einen guten Schritt weiter von einschlägigen Genres entfernt als Projekte wie The Knife und Fever Ray, die als treffendere Wegweiser gehandelt werden. Treffsicher auch und vor allem wegen Claires Gesang – ein filigraner und ausgesprochen artifizieller Pop-Sopran, der sich nie ganz zwischen Ernst und Spiel, Quirligkeit und sanfter Schwermut entscheiden will und der das dynamischen Pulsieren – mal Electronica, mal eher R’n'B – wie ein florales Ornament umschlingt. Mit fast verwunschener Leichtigkeit umschmeichelt er die Psyche in „Oblivion“, überragt in der Reichhaltigkeit des Effekts sogar den etwas über den Zaun gebrochenen Raumsound, vorausgesetzt, man hat keine Schwierigkeiten mit fiepsigem Dauerlispeln.

An einigen Stellen greift Claire bereitwillig in die Trashkiste, lässt in „Genesis“ Synthiebläser erklingen, deren schöne (vulgo: chillige) Melodie asiatisch anmutet und mit blubbernden Bässen interagiert, die auch in einer Physikdoku der 80er ihren Platz gefunden hätten. Hier wird der Gesang klagender, erinnert an eine andere 4AD-Band, die den noch unverbrauchten Indiepop der 90er mitdefinieren durfte, nämlich The Heart Throbbs. Irgendwann wird der Track tanzbarer, erreicht fast die Gelöstheit von „Infinite Love Without Fulfilment“, dessen Groove kaum zu dem tragisch klingenden Songtitel passen will (es sei denn man hat sich wohlig in einer masochistisch anmutenden Lacan’schen Abgeklärtheit eingerichtet). Die vielen Klangzitate, der Fama nach alle auf dem Notebook in Claires Schlafzimmer zusammengetragen, werden von einer sehr klaren Produktion zusammengehalten – eine Qualität, die mit dem Pseudonym der Musikerin, das im Deutschen “Schmutz” heißt, kaum korrespondiert.

Einen Gegenpol zur Opulenz dieser Stücke findet sich im dublastigen Reduktionismus von „Skin“ (bei dem Claires Stimme dank plakativer Stereoeffekte den Kopf des Hörers in konzentrischen Kreisen umwandert) oder in der sanften Lethargie von „Symphonia IY (My Wait Is You)“, die immer noch gelöst genug ist, um den Song, mit dem man stundenlang im Aprilregen herumfahren könnte, nicht als Fremdkörper erscheinen zu lassen. Auch hier sind mir die Assoziationen vieler Kollegen zu düsterem Electro oder gar Gothic schleierhaft – entweder bin ich abgestumpft, oder die Experten schreiben ab was das Zeug hält und rechnen nicht damit, dass das vielleicht auch jemand lesen könnte, dem diese Begriffe etwas sagen.

„Visions“ ist nettes Kino der Anspielungen, ein Mosaik aus überlagerten Echos zahlreicher Vorlieben und Zufallseinflüsse, die ihre Spuren im Bewusstsein Claire Bouchers hinterlassen haben – weshalb Name- und Termdropping auch so angenehm zulässig sind. Das ist nichts außergewöhnliches, sondern schlicht die in den 80ern so inflationär beschworene Postmoderne, die irgendwann, als Schlagwort längst so out wie Methusalem, den Rahmen des akademisch geprägten Kunstskanons sprengte und verspätet als 2.0-Phänomen die etwas lebensnähere Bastion Pop eroberte. Grimes verkörpert dies im guten Sinne, auch wenn das entrückte Fiepsen auf Dauer schon etwas überdreht wirkt. Ich wüsste nur gerne, was es nun mit der Kröte und der nackten Betty Boo auf sich hat, die Jan Wigger von Spiegel Online gesehen hat, als er „Visions“ erstmals in seinen Player schob.

Label: 4AD/Beggars Group/Indigo