Es ist eine Szene wie aus einer anderen Welt: Eine junge Frau, fast immer blond und kühl, veruntreut Geld und versucht, sich damit ins ungewisse Irgendwo abzusetzen. Die Häscher sind ihr auf den Fersen, doch auch ihre forsche Absage an alle Skrupel hift ihr nicht dauerhaft, sich gegen ihre Verfolger, und seien es die aus der eigenen Gewissenswelt, zu behaupten. Was wäre eigentlich das Ziel ihrer Flucht gewesen, die im Knast oder in der Duschkabine eines oral fixierten Moteliers endete? Sich zu verstecken, sich irgendwo eine neue Existenz zu ergaunern? Oder etwas dazwischen, ein Leben in Sorglosigkeit mit weniger Verpflichtungen und Abhängigkeiten, das man nur vorsichtig genug führen muss, damit einem die Vergangenheit nicht doch noch auf die Spur kommt?
Man kann es nicht wissen, denn in den Filmen, die sich dem Thema annehmen, obsiegt meist doch die Moral, gleichwohl sie keineswegs propagiert wird. Doch sicher ist, dass es immer Züge einer Aussteigerfantasie hat, ein Herauswollen aus dem Immergleichen, das einem Anpassung abverlangt und diese mit einem gewöhnlichen Leben entlohnt. Wie unzeitgemäß solche Stoffe heute sind, zeigte vor Jahren Gus van Sants Versuch, Hitchcocks “Psycho” eins zu eins in ein Setting der 90er zu übertragen. Das waren keine Figuren der Jetztzeit, sie sahen nur so aus, agierten vor neuen Kulissen und benutzten das heutige Idiom. Die femme fatale und das fallen girl unserer Zeit, das sind Figuren, die ihr Glück auf schäbige Weise “im” System suchen, statt seine Grenzen kriminell zu durchbrechen. Ihre provokante Erotik ist keine des Dissens, sondern die des scham- und rücksichtslos inszenierten Konsens. Die Noiregöttin, verludert wie die sie umgebende Welt und dieser zugleich in ihrer Amoralität überlegen, wurde verdrängt durch das Biest aus der Seifenoper, und manche erkennen nicht einmal den Unterschied. Wenn sich Andrew Liles, der Experimentalmusiker und Erforscher des Monströsen, dieses Sujets annimmt, dann geschieht dies auf eine Art, die dem märchenhaften-obsoleten Zug der Geschichte gerecht wird. “Murgatroyd the Monster” ist so etwas wie ein angejazztes Soundart-Hörspiel und erzählt – von zahlreichen akustischen Stimmungs- und Spannungserzeugern begleitet – die Geschichte einer jungen englischen Lady. Sie brachte den mafiösen Provinzmacker Murgatroyd um sein Bestes und ist den Rest ihrer Tage auf der Flucht vor dessen Gorillas. Weit kommt sie nicht, ihre Reise endet im nordenglischen Moorland.
Liles ist seit Beginn seiner Karriere ein Meister der Bezugnahme auf frühere Stoffe, Stilrichtungen, Mythen und Klischees, und doch niemals Aufwärmer und Kopist. Statt sich seinen Interessen museal anzunähern, bevorzugt er die Umformung, das Neuzusammensetzen, und für die ungewöhnliche Kombination disparat wirkender Elemente, die allenfalls im Humor plakativ ist, scheint er ein natürliches Talent zu besitzen. Im Falle des Noirstoffes machen er und seine Mitstreiter etwas, dass im Grunde lange überfällig gewesen ist, allerdings kaum in Filmen, Büchern oder Doomjazzplatten eine zentrale Rolle gespielt hat – er taucht den Stoff in eine widersinnig anmutende surreale Parallelwelt, die sich bereits auf oberflächlicher Ebene als schwammige, paradoxe Traumlandschaft entpuppt, in der man nie ganz sicher ist, wie sehr einen die Figuren, die Sprecher und vor allem die Sounds hinters Licht führen. Undefinierbare Stimmen, kratzende und hämmernde Geräusche, die zu einem von Jacques Rivette inszenierten Noir gepasst hätten, wechseln sich ab mit entspannt klimpernden Jazzzitaten, groovigen Rhythmusansätzen und höllischen Drones. Das englische Setting irritiert v.a. aufgrund einer gewissen Beschaulichkeit, die auf den ersten Blick zu der Hard Boiled-Stimmung ebenso wenig passen will wie zur artifiziellen Verfremdung der Szenerie. Dazu kommt, dass die Geschichte von zwei Amerikanern (ein mir unbekannter Alex Jako und Liles’ Nurse With Wound-Kollege Matt Waldron) vorgetragen wird.
Monster erscheinen in Liles’ Welt in den unterschiedlichsten Gestalten und in verschiedenen Graden der Buchstäblichkeit, Chimären und Mutanten tauchen in ihrer mythologischen Urgestalt ebenso auf wie als klischierte Halbgötter des Rock oder eben als grotesk verzerrte Westentaschen-Paten der englischen Provinz. „Murgatroyd“ erschien Anfang des Sommers und soll Gerüchten zufolge noch erhältlich sein.
Label: Blackest Rainbow