„The three worlds are transient like clouds in autumn“ heißt es in einem buddhistischen Sutra des 14. Jahrhunderts, das im Englischen unter dem Titel „Far Reaching Pleasures“ bekannt ist. Die Geburt und der Tod aller Wesen entfaltet sich wie ein Tanz, rauscht vorbei wie ein Gebirgsbach, verschwindet wie ein Blitz am Firmament. Anemone Tube hat die Verse dieses Sutras als Hintergrund für sein neues Release gewählt und verbindet die Betrachtungen mit seinem langjährigen Interesse an westlichen Vanitaskonzepten und ihrer klaren Bildlichkeit. So weit umspannend dieses Konzept ist, so umfangreich ist die Spannweite von „The Three Worlds“ geworden, denn es enthält neben Artwork des Fotokünstlers Dario Lehner drei CDs mit un- und wiederveröffentlichtem Material von den späten 90ern bis fast heute.
Mit dem Stilleben aus Uhr, Totenschädel, Juwelen und anderen barocken Symbolen von Kostbarkeit und Vergänglichkeit unterstreicht Anemone Tube, dass der Titel der ersten CD „Allegory of Vanity“ nicht beliebig gewählt ist. Zusammengefasst unter dieser Allegorie sind ausschließlich Tracks aus den ersten Jahren, angefangen mit zwei Stücken, die zusammen mit dem heute wenig bekannten Projekt Yggdrasil entstanden sind: „Ausweg” ist ein monoton-rhythmisches Industrialstück, in das mit der Zeit etwas Bewegung und mit metallischem Klimpern und einer Art Flötenton Variation Einzug hält – ein Ausweg, aber wohin? „Primary Slave“ ist um Längen chaoticher, räudiger und mit seinen unvorhersehbaren Tempobewegungen und seinem Kontrast aus Noise und Naturidyll der Alpdruck schlechthin. Ein bislang unveröffentlichtes Stück verbindet düstere Samples mit der Noisecore-Vorgeschichte der Band, die beiden abschließenden Tracks vom Tape „Allegories for the Future“ sind zwischen düsterem Rumoren und monotonem Geschruppe recht nah am Industrial der alten Schule.
Man könnte erwarten, dass die zweite Scheibe kohärenter ist, denn ihr Herzstück ist das komplette Tape-Album „Forget Heaven“. Auch hier eine Allegorie der Vergänglichkeit, das Artwork zeigt ein illusionäres Feuerwerk aus Seifenblasen, die im Dunklen mit leichter Beleuchtung einen Sternenhimmel bilden. Doch während die Fotografie dem Anblick eine Illusion von Ewigkeit gibt, wird der künstliche Himmel schon in wenigen Sekunden vergessen sein. Schon im ersten Track ist ein ritueller Unterton hörbar, doch gutturaler Stimmeinsatz und nach vorn preschende Rhythmen geben „Ti Fang – Desertification“ ein aggressives Pathos. Schnell offenbart das Album ein ganzes Sammelsurium an klanglichen und atmosphärischen Ideen: Dunkles, verkatertes Kreisen, Seufzer aus der Tiefe, soghafter Noise, bedrohliche Klangflächen, klassische Overtüren und Tanzbares, das man bei Anemone Tube so nicht erwartet hätte. Wie ein Bonus wirken hier die drei Compilation-Tracks, von denen ich das melancholische Ambient-Loop „Long Lost“ hervorheben möchte.
In „Vanity of Allegory“ schließt sich der Kreis, schon Titel und Artwork greifen auf den ersten Teil zurück. Doch hier sind die Symbole der Kostbarkeit und Vergänglichkeit keine bloßen Gegenstände der Anschauung durch ein unbeteiligt reflektierendes Betrachter-Ego – durch den Spiegel, in dem man einen Teil der Motive nun sieht, wird der Betrachter selbst zu einem Vanitassymbol, und selbst die Musik, repräsentiert durch die gesichtslose Figur des Künstlers, wird zu einem Teil dieser Spiegelung. Die Musik auf der CD spannt den zeitlich weitesten Bogen: „Obscure the Sun“ ist etwa fünf Jahre alt und lag bislang in der Schublade, musikalisch repräsentiert es die oft flächige Gestalt der heutigen Anemone Tube und erinnert in seiner schleppenden schwere auch etwas an neuere Phallus Dei. Ein abrubter Bruch, wie er gelegentlich auch auf Konzerten vorkommt, leitet zu Stücken aus der „Death over China“-Phase über, man fragt sich, warum er das aufwühlende „Climate Controller“ und das von Schreien in Unruhe versetzte „The Sirens“ so lange unter Verschluss gehalten hat. Der Rest ist eine nicht wirklich bunte, aber vielgestaltige Mischung aus brodelnden, dröhnenden und scheppernden Tracks aus unterschiedlichen Phasen, die mit ihren vielen Bezügen nach typischer Anemone Tube-Manier ein großes Netz an Bezügen spinnen.
„Meditation is a Practice of Death“ hieß es mal bei OM in Anspielung auf die Vorstellung, dass es in jeder spirituellen Arbeit darum geht, sich in der einen oder anderen Form auf das Sterben vorzubereiten. Für den an buddhistischer Praxis ebenso wie an christliche Mystik interessierten Anemone Tube geht es seit langem darum, dem Horror der Vergänglichkeit ins Auge zu sehen, ohne dabei den Blick in Watte zu packen. Dass dies mit einer gewissen Faszination geschieht, könnte ihm, würde er vermehrt außerhalb der alles Düstere oft gewohnheitsmäßig abnickenden Industrial-Community rezipiert werden, als masoschistisches Suhlen in Negativität ausgelegt werden, doch bei genauerem Hinsehen begegnen einem immer wieder Zeichen des Mitgefühlt und zugleich die Tendenz zu einem kraftvollen, quasi nietzscheanischen Vitalismus. Das trotz seines Umfangs füllmaterialfreie und von Hunter Barr bestens in Form gebrachte „The Three Worlds“ macht deutlich, wie sehr all dies von Beginn an leitmotivisch war.
Die drei CDs sind sowohl einzeln, als auch in einem limitierten Special Edition-Set inklusive Poster und weiteren Extras zu haben. (U.S.)
Label: The Epicurean / La Esencia