Seit gut 10 Jahren existiert das aus Richard Thompson und Emma Reed bestehende Duo Lost Harbours. Auf inzwischen drei Alben und zahlreichen kleineren Veröffentlichungen spielen sie eine Musik, die sie selbst als „exprimental folk“ bezeichnen – und diese teils transzendentale Musik transzendiert auch tatsächlich (allzu) einfache Kategorisierungen und Genrebegrenzungen – „Hymns & Ghosts“ heißt fast schon programmatisch ein Album von Lost Harbours. Ursprünglich aus Southend-on-Sea stammend, lebt Thompson inzwischen in Lettland.
Kannst du ein paar Worte sagen, wie und warum es zu Lost Harbours kam? Hast du in anderen, stilistisch andersgearteten (oder ähnlichen) Bands gespielt, bevor ihr Lost Harbours gegründet hattet?
Abgesehen von einer Britpop-Band, in der ich als Teenager Bass gespielt hatte, ist Lost Harbours mein erstes kreatives Projekt. Es waren zum Teil diese frühen Musikerfahrungen, die mich zu meinem Soloprojekt motivierten. Ich wollte Musik machen, empfand es aber als Hindernis, mit Leuten zu spielen, die einen anderen Geschmack, andere Ziele und andere Arbeitsweisen hatten. Nachdem die Band aufgelöst war, spielte ich viel Klavier und besorgte mir eine Gitarre. Am Anfang benutzte ich Kassettenrekorder zum Aufnehmen, dann Minidisc und später einen digitalen Achtspurrekorder, mit dem die Demos des ersten Albums ‘Hymns and Ghosts’ aufgenommen wurden, plus eine Menge an anderem frühen Material. In dieser Zeit befasste ich mich auch sehr intensiv mit sehr unterschiedlichen Musikgenres und Stilen. Besonders mochte ich “Noise” sehr, Acts wie Wolf Eyes, Nackt Insectan, Kylie Minnoise und Smegma, die Industrial-Szene der 80er und außerdem frühe James Blackshaw-Sachen und Grouper.
Du beschreibst Lost Harbours (bescheiden oder selbstsicher) als ein “experimentelles Folk-Duo”. In der Tat scheinen abstrakte Muster und “Soundscapes” in deiner Musik eine ähnlich starke Rolle zu spielen wie Songs und traditionelle, akustische Instrumente. Bist du mit englischer Folkmusik aufgewachsen, und falls nicht, wie hast du diese Art Musik entdeckt? Findest du, dass es immer eine Balanche zwischen Experiment und Konvention geben sollte?
Ich hatte keinerlei Verbindung zu Folkmusik, bis ich in meinen späten Teenagerjahren auf das Incredible String Band-Album ‘The Hangman’s Beautiful Daughter’ gestoßen bin, plus eine Anne Briggs-Compilation, Bob Dylan und ein paar Blues-Sampler vone inem lokalen Second Hand-Plattenladen. Zu der Zeit suchte ich einfach nur nach allem,w as schräg war, aber ohne Internet waren meine einzigen Wegweiser NME, Melody Maker, The Wire und andere Musikmagazine. Manchmal hieß das, ein Album wegen seines Covers zu kaufen, das war so bei der Incredible String Band und auch bei Godspeed You Black Emperor. Zur gleichen Zeit mochte ich John Martyn sehr, v.a. “Solid Air”. Die ganze ‘Freak Folk’-Szene entstand in den Staaten, was mich sofort interessierte – einen der ersten UK-Gigs von Devendra Banhart zu sehen, war sehr inspirierend. Dann entdeckte ich durch einen Artikel im Wire finnischen Free Folk und begann alles vom Fonal-Label zu kaufen,w as ich finden konnte. Mit englischer Folkmusik hatte ich tatsächlich nie wirklich viel am Hut, bevor ich mit Lost Harbours Musik machte. Die meisten Einflüsse waren aus Amerika oder Europa, Bands wie Espers, Six Organs of Admittance, Jandek, Devendra Banhart, Popol Vuh, Amon Duul ii, Lau Nau, Paavoharju und Islaja.
Ob die Balance zwischen Experiment und Konvention erforderlich ist, hängt allein von dem ab, was du erreichen willst, aber das ist auch nichts, worüber ich nachdenke, wenn ich Musik mache. Ich denke, wenn das ein Teil deiner Eistellung ist, dann machst du Musik für einen bestimmten Markt, wohingegen ich Musik spiele, um mich selbst auszudrücken. Jedes Element, ob ‘experimentell’ oder ‘konventionell’, muss zuallererst im Dienste des Songs stehen.
Ich hatte mich immer ein bisschen schwer getan damit, einen Begriff zu finden, der zusammenfasst, was ich mit meinem Projekt versuche, ‘experimenteller Folk’ schien mir für einen Weile ganz hilfreich. Es ist sehr schwierig, mit nur zwei oder drei Wörtern etwas zu beschreiben, das mehrere Genres verbindet. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Leute kaum den Begriff “Folk” verwenden würden, um den größten Teil dessen, was ich mache, zu beschreiben, aber ist was ich mache wirklich experimentell im wahrsten Sinne des Wortes?
Ich habe mir die Kassettenversion von “Towers of Silence” gekauft, worauf mehr von den Droneelementen enthalten sind. Du schreibst von “extra atmosphärischen und ambienten Sounds”. Fandest du, dass das Tape das ideale Medium dafür ist? Wie kam es dazu, dass du zwei (leicht) verschiedene Versionen des Albums herausgebracht hast?
Um das Album für Vinyl passend zu machen ohne Soundqualität einzubüßen, musste ich viele der Ambientpassagen entfernen. Insgesamt, denke ich, habe ich ungefähr fünfundzwanzig Minuten des ursprünglichen Materials entfernt. Mit dem Release auf Kassette konnte ich das Album immer noch in zwei Teile aufteilen und dabei (fast) die ursprüngliche Länge beibehalten. Ich freue mich außerdem sehr über das heutigen Revival der Kassette und wollte ein bisschen was dazu beitragen.
Wie ist das Verhältnis zwischen den eher komponierten Songs und den improvisierten Stücken auf deinen Alben?
Die improvisierten Stücke, auf die du dich beziehst, sind meist im Proberaum entstanden, wenn ich entweder mit Emma oder mit Sabine am Üben war; da kamen Songs heraus, die Elemente der Improvisation in ihrem Aufbau zuließen, was sich dann sehr gelöst anfühlt. Meine andere Methode besteht darin, einfach ein paar improvisierte Gitarrenparts aufzunehmen und dann zu ergänzen, nach dem Motto “die erste Idee ist die beste”. Andere Songs wirken dagegen wie vollkommen ausgearbeitet. Ich versuche, jeden Tag Gitarre zu spielen, irgendwann ist ein Riff da und in wenigen Minuten ergibt sich ein lyrischer Inhalt, und der Rest ergibt sich schnell. “Lake” kam so zustande, ebenso “Morning Song” vom ersten Album, das nur wenige Stunden vor dem ersten “ordentlichen” Lost Harbours-Auftritt geschrieben wurde.
Künstler lassen sich oft von ihrer Umgebung, besonders der Natur, inspirieren, und du hast ein Album aufgenommen (”Engures Ezers”), von dem du gesagt hast, es sei inspiriert von einem Sommertrip im Norden Lettlands. Kannst du uns etwas über seine Entstehung sagen und über die Rolle von Natur und Landschaft in deinen Arbeiten?
Ich hab immer ein Aufnahmegerät dabei, wenn ich auf Reisen bin und benutze die Feldaufnahmen als Grundelement in vielen Tracks – schon auf der ersten EP kannst du Vogelzwitschern aus Berlin-Mitte hören.
Die Reise, die du erwähnst, war eine fast surreale Erfahrung. Die ländlichen Gegenden in Lettland sind nicht sehr stark besiedelt, und oft schien es, als sei meilenweit niemand da außer uns und den Mücken. Einmal fanden wir an einem Ort hunderte toter Libellen; sie flogen hinter uns her und fielen langsam zu Boden und hinterließen eine Spur toter Körper den ganzen Weg entlang bis zum See. Ich machte einige Fotos auf der Reise, die meine Reflexion darüber ermöglichten, Ich denke, dass die tiefe melancholie der Umgebung auch eine Rolle gespielt hat, die Stille des klaren Wassers, verlassene Häuser, ein Boot am Strand, dessen Heck von sanften Wellen umspielt wurde.
Ich habe immer eine Affinität zu stillen, natürlichen Orten gespürt und da die Zeit, die ich habe, um solch eine Art von Umgebung zu genießen, geringer geworden ist, schätze ich die Zeit, die ich hbe, besonders. Wenn ich also mit der natürlichen Umgebung in Berührung komme, werde ich besonders inspiriert.
Das Album selbst entstand aus gefundenen Klängen, Schnipsel aus dem Radio, Samples von Kassetten, die ich in Riga gekauft hatte und die dann durch ein System von Gitarrenpedalen geschickt wurden. Während die ersten Tracks sich sehr schnell entwickelten, habe ich ein ganzes Jahr gebraucht, um sie zu verfeinern. Ich habe gleichzeitig an ‘In the Direction of the Sun’ gearbeitet und ähnliche Techniken angewendet – abgesehen davon, dass das Album hauptsächlich aus Feldaufnahmen und Copyright freiem Material gemacht wurde, um die Geographie der Orkney Islands hervorzurufen.
Bei “Engure Ezers” war es so, dass ich für jeden Track an eine spezifische Erinnerung eines Ereignisses dachte, sei es das Schauen in das klare Wasser eines Sees oder mein mich Winden durch dichte Wälder, um dann die traumartige Eigenschaft, die die verblassende Erinnerung in dem Song hat, einzufangen: Dieses Lösen von Spezifika und das Durchsickern von Gefühlen, Zeit und Bild in einen schemenhaften Eindruck.
Auf dem letzten Album bezieht ihr euch sowohl auf eure Heimat in Essex als auch erneut auf Lettland, wo ihr heute lebt. Würdest du sagen, dass die Art, wie euch diese beiden Orte inspirieren, sehr unterschiedlich ist?
Das Leben außerhalb Englands hat mich dazu gebracht, zurückzuschauen und mich mit britischen Folksongs zu beschäftigen. Da ich außerdem nur ein bis zwei Mal im Jahr im Vereinigten Königreich bin, denke ich, dass die Landschaft einen stärkeren Eindruck bei mir hinterlässt als vorher. Ich bin erfrischt, neue Dinge stechen heraus, neue Eindrücke werden gewonnen, alles fühlt sich weniger vertraut an. “Towers of Silence” ist mein Versuch, diese Gefühle einzufangen.
Insgesamt ist meine Art und Weise, wie ich an einen Text und ans Songschreiben herangehe, dennoch die gleiche, ega ob ich jetzt von England oder Litauen beeinflusst bin. Die Art von Einflüssen, die ich von jedem dieser Orte mitnehme, sind ähnlich.
Deine Art zu singen erinnert manchmal an Kirchengesänge. Hast du alte Gesangstechniken studiert, oder gab es irgend einen anderen Einfluss solcher Musik?
Als ich klein war, sang meine Mutter in einem Chor und ich bin regelmäßig zu ihren Konzerten mitgekommen. Die zusammen mit meinen eigenen Chorerfahrungen – also dass ich Gregorianische Gesänge und Georgianische Polyphone Gesänge gehört hatte – haben meine Art zu singen ganz entschieden beeinflusst. Aber ich habe die Gesangstechniken nie formal studiert.
Auf dem oben erwähnten “Engures Ezers” gibt es einen Track namens “Forest Mass”, das ein besonders transzendentes Stück zu sein scheint (falls ein solch unspezifischer Begriff in Ordnung ist). Hast du einen Hang zum Pantheismus? In welchem Maß ist deine Musik “Hingabe” (um den Begriff “devotion” aus einem Song auf “Wooden Wires” zu zitieren)?
Ich würde das nie sagen. Trotzdem ist meine Musik sicher auf eine gewisse Art als Verehrung der Natur als etwas sehr Schönes und Unkontrollierbares gemeint.
Dein letztes Album beginnt und endet mit einem Traditional. War dieser Rahmen beabsichtigt, und was kannst du uns zur Bedeutung der beiden Stücke für dich und für “Towers of Silence” sagen?
Bevor wir mit den Aufnahmen fertig waren, hatte ich noch keine Idee über die Reihenfolge der Tracks. Während ich die Tracks für das Vinyl zurechtschnitt, probierte ich einige Kombinationen aus. Es dauerte um die sechs Monate, um alles an seinen Platz zu bekommen. Anfangs dachten wir, “Lake” ins Zentrum zu stellen und dachten, dass könnte die “Single” sein, aber irgendwann kamen wir vond er Idee ab. Die zwei längeren Stücke mussten am meisten zurechtgeschnitten werden, um den Kern des Songs zu wahren, dann haben wir ihre Plätze auf dem Album ausgetauscht. Ich hatte keine Absicht, die Track herumzuschieben, es gab keine besondere Erzählung oder ähnliches, was ich kreieren wollte, aber es war mein Plan, alles möglichst sanft fließen zu lassen. Wie gesagt dauerte das alles sechs Monate.
“Idumea” findet sich (auf eine andere Art) auch auf “In the Direction Of The Sun”. Wieso hast du es erneut verwendet?
Einfach weil es einer meiner Lieblingssongs ist, und ich hatte die Gelegenheit, eine Studioaufnahme mit Diana Colliers Vocals zu machen. Wir hatten den Song schon fertig, bevor wir den Rest des Albums aufgenommen hatten und spielten es in verschiedenen Formen live. Diana spielte mit uns zusammen auf dem Leigh Folk Festival, und ich hatte etwas Zeit im No Recording Studio gebucht und sie eingeladen.
“From Beyond” war beeinflusst “der Melancholie und dem brutalen Klang des Black Metal”. Wie kam es zu diesem Album?
Ich hab sporadisch Phasen, in denen ich Black Metal höre, ich spüre einen Hang zu den Texturen und Tönen des Sounds, v.a. auf frühen Alben von Abruptum. Ich dachte, es könnte eine interessante Richtung sein, zumindest für ein paar Songs. Sämtliche Versuch meinerseits, vom Gesang her in die Richtung zu gehen, wurden aber schon lange gelöscht.
Was ist dir wichtiger, das Schreiben und Aufnehmen oder das Aufführen von Musik?
Ich gebe keinem von beidem den Vorzug, ich denke, sie all das nährt sich gegenseitig. Meist hab ich bei Konzerten einige noch nicht aufgenommene Songs im Repertoire, die noch im Entstehen sind, die Aufführung verfestigt ihre Form, was dazu führt, dass ich sie aufnehme. Während des Aufnehmens bin ich oft inspiriert, neues Material zu schreiben… und so geht es weiter.
Wie wichtig war der Einfluss von Gruppen wie Comus für deine frühen Sachen? War es auch eine Art Hommage, Bobbie Watson auf “Hymns & Ghosts” singen zu lassen?
Ich kannte Comus schon lange, aber ihre Alben waren für mich immer so etwas wie die Quadratur des Kreises, und ich glaube ein früher Vergleich hat mich davon abgebracht, sie zu hören. erst als ich dann Jon Seagroatt (Bobbies Mann) traf und seine Band Red Square (ein Mit-70er Improvnoise-Trio) einludt, ihren ersten Gig seit vielen vielen Jahren in unserer gemeinsamen Heimatstadt zu spielen, ließ ich mich endlich auf sie ein. Zu der Zeit hatte ich gerade angefangen, “Hymns & Ghosts” aufzunehmen, und Jon dachte, dass Bobbie vielleicht Lust hat, Gastvocals zu singen, was sie dann tat, und so ist sie auf dem letzten Track ‘Hymns & Ghosts part 2’ zu hören. Ich hoffe, sie werden beide auf dem nächsten Album zu hören sein – sie haben uns beide über die Jahre sehr unterstützt.
Gibt es andere Künstler (heutige oder aus der Vergangenheit), denen du dich nah fühlst?
Espers, Popol Vuh, Richard Youngs, Richard Dawson und Current 93.
Auch wenn es vielleicht ein bisschen konventionell klingt, aber was sind deine Pläne für die nächste Zeit?
Hoffentlich mehr Konzerte und Touren. Es gibt so viele Länder in Europa, in denen ich noch nie gespielt habe. Ich würde sehr gerne dieses Jahr in Italien, Spanien und Portugal spielen, und in kleineren Städten in Deutschland und Polen. Ich genieße das Touren sehr: Leute treffen, vor unterschiedlichen Zuhörern spielen, lange Busfahrten; es kann sehr lohnenswert sein.
Ich habe ein neues Album so gut wie fertig gestellt, mit Material, das mehr die Ambient / Drone-Seite des Lost Harbours-Sound repräsentiert. Es geht teilweise in Richtung “Engure Ezers”, nur ohne Gitarren.
In den letzten zwei Jahren verbrachten Sabine und ich einige Zeit in verschiedenen Proberäumen und haben neues Material eingespielt. Ich hoffe, dass wir es bald in einem Studio in Lettland aufnehmen können. Jeder, der uns im letzten Jahr live gesehen hat, hat diese Songs gehört. Sie sind etwas schwerer mit Sabines Synthies, Sampler und Rhythmen. Wir hatten zwischendrin auch mit einem Bassspieler geprobt, und das ist etwas, das ich in der Zukunft öfter ausprobieren möchte.
Ich gehe bald zurück nach England, um die Folksongs, die Sagen und die Mythologie meines Landes – Essex – zu studieren. Das ist ein sehr langfristiges Projekt, ein Album aus diesen Forschungen zu kreieren, alten Songs ein neues Gewandt zu geben.
(M.G. & U.S.)
Fotos: Sarah Mitrikė, Steven Paul, Jan Dobry and Katie O’ Neill