LITTLE ANNIE: Short, Sweet and Dread

Über die Karriere Little Annies existiert die etwas abwegige Vorstellung, dass sie seit ihren Anfängen im Punk mehrfach ihren Stil und ihr kreatives Umfeld wie eine alte Schlangenhaut abgelegt und sich komplett neuen Ausdrucksformen – nach dem Punk zunächt dem Dub und funky Electronica, später dann chansonhafter Songwritermusik zwischen Cabaret und Torch Song – zugewandt habe. In Wirklichkeit gingen all diese Veränderungen graduell vonstatten, echte Wendepunkte sind nur bedingt auszumachen, und nicht selten streckten sich Stilmerkmale und persönliche Zusammenarbeiten über verschiedene Schaffensabschnitte hin. So reichen Annies Experimente mit Dub weit in ihre Punktage zurück, und auf “Soul Possession” (1984), ihr erstes Album mit Adrian Sherwood, herrschte ein noch rauer, ungeschmeidiger Sound vor, der sicher nicht unwesentlich auf die Mitwirkung zahlreicher Leute aus dem Dunstkreis von Crass Records zurückzuführen ist.

Die Compilation “Short, Sweet and Dread” von 1994 umfasst mit der EP “In Dread with Little Annie” und dem Album “Short and Sweet” (plus einer Alternativversion eines Songs) die wichtigsten Arbeiten aus der daran anschließenden Phase und ist somit zwar nicht ihre erste Reise in die Welt des Dub, aber vielleicht ihre erste Phase ohne direkten Punkbezug und irgendwie radiotauglicher als alles Zurückliegende. Aufgrund ihrer von Mehrdeutigkeit und markanten Gegensätzen gespickten Texte und ihres oft schwermütigen, an Soul und anderen “schwarzen” Musiktraditionen geschulten Gesangs weist zudem vieles – nicht zuletzt der epische Schlussrtrack “If Cain Were Able” – schon auf ihre späteren Arbeiten mit Leuten wie Antony, Baby Dee oder Paul Wallfisch voraus.

Das Gros der Stilelemente trägt hier jedoch die Handschrift der im Umfeld von Sherwoods On-U Sound-Label aktiven Funk- und Reggae-Combos Tackhead und Strange Parcels, die ihre groovigen Klangspuren wie einen perfekt sitzenden Mantel um Annies Gesang legen und immer einen bestens akzentuierenden Hintergrund abgeben. Manche Tracks sprudeln über vor Ideenreichtum: In “10 Killer Hurtz More” gelingt Annie mit Metaphern aus der damals noch unverbrauten Welt der Computer einer ihrer größten Lovesongs, mit lässig-laszivem Vortrag, markant von aufgewühlten Takten und einer orientalisierenden Flötensimulation begleitet. “This Town” und “The World go by in Dub” scheren sich nicht um Aufgeräumtheit, geben sich mit Zirkusmelodien und zeittypischen Leftfield-Rhythmen launig cool und lassen allerlei Gebrülle und Gepolter im Hintergrund erklingen. Im funky Ethnosound offenbart “Give it to me” ein Panorama über die Vielfältigkeit des Begehrens (und ist ein Beispiel für Annies Lust am Aufzählen, bei dem in Pop-up-Manier die unterschiedlichsten Horizonte für Sekunden offenstehen – auf ähnliche Weise wird sie mehr als zehn Jahr später ihre aktuelle Schaffensphase mit dem genialen “Freddy and Me” eröffnen).

“Bless Them (Little Annie’s Prayer)” erinnert wie einiges aus dieser Zeit etwas an Grace Jones und ist im Grunde schon ein stimmungsvoller Torch Song – zwar ungemein tanzbar und groovig sind es doch v.a. Barpiano und verwehte Bläser, die ihre Fürbitten für alle Rebellen und Beautiful Losers dieser Welt untermalen. Chansonhaftes findet man spätestens im französisch gesungenen “Le Manger Hereux” und in das luftige Dub-Gehäuse von “Miss the Light” schleicht sich ein Gefühlsgemisch aus Euphorie und Wehmut, das außer Annie so vielleicht nur noch Marc Almond auf die Beine gebracht hätte.

Wer mit Electronica der 90er keine Schwierigkeiten hat und sie vielleicht sogar schon ein bisschen “Vintage” findet, erhält in “Short, Sweet and Dread” die Veröffentlichung, mit der man Little Annies Musik vielleicht am besten kennenlernen kann, da sie einen Zeitraum abdeckt, in dem sie ihre Interessen in die unterschiedlichsten Richtungen lenkte und somit Altes, Aktuelles und mehr als nur eine kleine Vorausschau auf Künftiges unter einen Hut brachte. Wiederveröffentlicht wurde die Sammlung bislang nur über Bandcamp, aber vielleicht ist da über ihre derzeitigen Labels ja noch mehr drin. (U.S.)