Anna Linardou veröffentlichte vor einigen Monaten ihr erstes Soloalbum, das ganz im Zeichen der Heterotopie, des “anderen Ortes” steht – eines weiträumigen Bereichs alternativer Möglichkeiten, der oft im Rahmen kindlicher Fantasien erkundet wird und der doch weit mehr ist als ein irrationales Refugium. Das recht umfangreiche Repertoire der Sängerin und Stimm-Performerin reicht von kreativen Vokalexperimenten bis zu populären griechischen Kunstliedern, vielen unserer Leser ist sie sicher erstmals als Teil eines Biotops im Großraum Athen aufgefallen, zu dem Gruppen wie Lüüp, Vault of Blossomed Ropes oder die Black Lesbian Fishermen zählen, einer Szene, in der keine Genregesetze gelten und zwischen traditioneller Musik, Rock und Avantgarde alles möglich scheint. Da überrascht es kaum, dass ihr Album wie ein Raum anmutet, in dem verschiedenste Stimmen aus unterschiedlichen Sprachen, Epochen und Weltregionen zusammenkommen und miteinander in den Dialog treten. Über all dies und ihre vielfältigen Hintergründe sprachen wir im folgenden Interview.
Du hast klassischen und modernen Gesang studiert, und ich schätze, dass deine Leidenschaft für’s Singen schon viel früher da war. Was war es, das dein Interesse an der menschlichen Stimme als Ausdrucksmittel weckte?
Ich war schon immer beeindruckt von der Vielseitigkeit der menschlichen Stimme. Seit meiner Kindheit wollte ich verstehen, was die Stimmen verschiedener Gesangsstile so unglaublich unterschiedlich klingen lässt. Zunächt hatte ich versucht, den technischen Aspekt des Problems zu verstehen. Dann begann ich zu erkennen und zu beobachten, wie kulturelle Konzepte, religiöse Überzeugungen und persönliche Erfahrungen, Ideologie im Allgemeinen, den Stimmapparat beeinflussen und damit seinen Klang definieren. Das Interessanteste an der menschlichen Stimme ist also dieser verborgene “Text”, der in seine Klangfarben eingeprägt ist. Die Melodie und die Texte, denke ich, sind dem Kontext untergeordnet, der sich selbst offenbart.
Du hast einige Jahre mit verschiedenen Musikern zusammengearbeitet, bevor du dein erstes Solowerk aufgenommen hast. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Ich begann als professionelle Sängerin zu arbeiten, als ich noch ziemlich jung war, einfach getrieben von meiner Liebe zum Singen, ohne konkrete Karriereziele und sicherlich lange bevor ich eine klare künstlerische Vision hatte. Die Vision begann sich erst nach einiger künstlerischer Erfahrung und Lebenserfahrung zu formen. Die Idee zu dem Soloalbum keimte vor etwa 4 Jahren, als ich das Gefühl hatte, dass ich etwas Solides zu sagen und zu teilen habe.
Sind einige der Stücke auf dem Album schon etwas älter?
Abgesehen von “Heterotopia”, einem neuen Stück, sind alle anderen Songs gewissermaßen Studienobjekte aus den vergangenen Jahren. Einige von ihnen, wie “Ahmedo”, habe ich live mit verschiedenen Musikern und Orchestrierungen gespielt. Das Album ist aber der erste Versuch, sie so zu arrangieren und aufzunehmen, wie ich sie in meinem Kopf höre.
Du sagtest einmal, dass sich der Titel “Heterotopia” stark auf eigene Fantasien aus der Kindheit bezieht. Würdest du sagen, dass diese Fantasien auch ein Ausgangspunkt für deine kreative Arbeit waren?
Die kreative Arbeit ist sicher die Fortsetzung des kindlichen Spiels. Wie alle meine Musikaktivitäten…
Wie viele “fantastische” Werke und trotz seines Titels scheint das Album eng mit der realen Welt verbunden zu sein. Glaubst du, dass ein Ort wie die Heterotopie in uns und in unserem täglichen Leben ist, und dass es von uns abhängt, ihn wahrzunehmen?
Nein, es ist nicht etwas, das bereits existiert und darauf wartet, wahrgenommen zu werden. Es ist ein Ort innerhalb und um uns, der durch Entscheidung geschaffen und bewahrt wird. Es erfordert Lebensanstrengungen, um unsere persönliche und kollektive Vergangenheit zu verstehen und in unser Bewusstsein zu integrieren, damit wir bewusst, kritisch und verantwortungsvoll den gegebenen Normen gegenüberstehen und entscheiden können, ob wir sie bewahren, verwerfen, überarbeiten oder entwickeln. Für mich ist die Heterotopie ein Ziel.
Die Songs auf dem Album kommen von verschiedenen Orten, Zeiten und Sprachtraditionen, aber deine Interpretation verbindet sie miteinander. Warum hast du dich gerade für diese Stücke entschieden?
Ich hatte sie ausgewählt, weil sie für verschiedene Gesangsstile repräsentativ sind, die für mich Einflüsse waren. Das Album ist sowohl ein Lebenslauf meiner Gesangsreise in den vergangenen Jahren als auch eine Aufnahme des Ortes, an dem ich jetzt musikalisch stehe.
Haben sie ein starkes verbindendes Element, oder hast du es ihnen erst durch deine Versionen gegeben?
Was sie vielleicht gemeinsam haben, ist, dass ihre Texte, obwohl sie aus verschiedenen kulturellen Kontexten stammen, sich auf Dinge beziehen, die mir nicht fremd sind. Mein Erfahrungsbezug zu dem, was ich singe, ist mir sehr wichtig.
Deine Interpretationen sind manchmal ziemlich unabhängig von den Ursprüngen der Songs, aber trotzdem scheint es, dass du sie mit Respekt behandelst. Ich denke, diese Kombination aus kreativer Freiheit und Wertschätzung ist wichtig, wenn man Lieder aus älteren Quellen wiederbelebt…
Meine Absicht war nicht, alte Lieder zu “revitalisieren”. Ich teile nicht die Ansicht, dass alte oder Volksmusik “Modernisierung” braucht, um heute für das Publikum attraktiver zu werden. Ich stehe auch weit weg von der “Mix and Match”-Logik. Abgesehen von den einzelnen Elementen, die sich auf eine bestimmte Epoche, Geographie und Lebensstil beziehen, gibt es einen Kern in Liedern, der stark und direkt mit etwas Kollektivem, Universellem und Zeitlosem verbunden ist. Das ist es, was mich interessiert. Elektronik, Sampling sowie das Mischen von Gesangsstilen waren also kein Versuch, trendy zu klingen. Eher waren es Werkzeuge, um die Songs aus ihrem spezifischen Hintergrund zu extrahieren und Atmosphären zu schaffen, die das, was ich fühle, als ihren Kern voranbringen.
Viele der Stücke erscheinen “derangierter” als in anderen bekannten Versionen. Wenn du das auch so siehst, warum hast du dich für diesen experimentierfreudigeren Ansatz entschieden?
Es ist der Kontext der Songs selbst. “Yalla Tnam Rima” ist wahrscheinlich das repräsentativste Beispiel. Es ist ein Schlaflied für ein Mädchen namens Rima. Eine beruhigende Stimme singt ihr dieses Lied, zusammen mit einigen spielzeugartigen Klavierfragmenten. Als Rima beginnt, die Grenzen des Schlafes zu überqueren, wird das Klavier und die Klänge der Umgebung verändert und mit den Klängen ihrer verträumten Abenteuer vermischt, für die das Lied letztlich steht. Es ist ist ein beschützender Begleiter in die unberechenbare Welt des Unbewussten. Ein weiteres Beispiel ist “Little Sparrow”, wo ich irgendwann rhythmischen Kehlkopfgesang verwende, der sich allmählich intensiviert und verdoppelt, als ob zwei wilde Tiere versuchen, sich gegenseitig zu verschlingen. Es steht in einem starken Gegensatz zu der lyrischen, sanften, mädchenhaften Version von Jean Ritchie, die keine andere Wahl hatte, als lyrisch, sanft und mädchenhaft zu singen, das war ihr kultureller Auftrag. Aber ist dieser wilde, gefährliche und verschlingende Kampf nicht das, worüber sie eigentlich singt?
Jede Kultur ist in gewisser Weise ein “Schmelztiegel” von Einflüssen, aber für Griechenland mit seiner alten Geschichte und seiner maritimen Lage an der Grenze zwischen Ost und West eignet sich der Begriff besonders. Würdest du sagen, dass “Heterotopia” mit seiner Vielfalt an Einflüssen auch ein typisch griechisches Album ist?
Wenn ich keine Griechin wäre, wäre es eher unwahrscheinlich, dass ich diese spezifische Kombination von Einflüssen hätte. Ob ich typisch griechisch bin oder ob “Heterotopia” ein typisch griechisches Album ist, ist fraglich. Es hängt davon ab, wie man “Griechisch” definiert. Meine Meinung zu diesem Thema ist sicher nicht typisch für Griechen
Anna Linardou & Giorgos Varoutas – Yalla Tnam Rima from Anna Linardou on Vimeo.
Ich hatte mich gefragt, ob dein griechisches Publikum wohl eher die vertrauten oder eher die exotischen Aspekte des Albums sieht.
Ich denke, dass sie beides sehen. Einer meiner Lieblingskommentare war: “Ich hatte das Gefühl, einen vertrauten Ort besucht zu haben, an dem ich noch nie zuvor war”.
Was kannst du uns über die anderen Musiker sagen, die daran beteiligt sind?
Die meisten Mitwirkenden bei “Heterotopia” spielen auch eine große Rolle in der Heterotopie meines Alltags. Der wichtigste Beitragende ist Giorgos Varoutas. Sein Händchen für Sampling und Mixing, sein Sinn für Ästhetik, seine künstlerische Tiefe zusammen mit dem gegenseitigen, mühelosen, tiefen Verständnis, das in den vielen Jahren, in denen wir zusammenarbeiten, entwickelt wurde, machen ihn zu einem unersetzlichen Kollaborateur. Dazu kommen Stelios Romaliadis mit seiner Flöte und Nikos Fokas mit seiner modularen Elektronik, Gefährten aus Vault of Blossomed Ropes. Nikos und Stelios haben zu dem Album nicht nur mit ihren Aufnahmen beigetragen, sondern auch mit ihrem beständigen Einfluss und ihrer Inspiration in den letzten 7 Jahren, in denen wir zusammen spielen. Außerdem Sophia Efkleidou, eine Bandkollegin aus Lüüp, eine ganz besondere Cellospielerin mit einem außergewöhnlichen Repertoire, das sich von Bach bis zur klassischen osmanischen Musik erstreckt. Nicht zuletzt Foad Ahmadvand, ein erstaunlicher iranischer Santur-Spieler. Ein guter Freund stellte ihn mir vor, während Foad in Athen in einem Erasmus-Programm war.
Neben deiner Tätigkeit in Avantgarde-Gruppen wie Lüüp oder Vault of Blossomed Ropes hast du auch populäre griechische Songs gespielt (z.B. Stücke von Mikis Theodorakis). Spielst du diese Sachen nach wie vor, oder ist das ein geschlossenes Kapitel aus der Vergangenheit?
Es ist mehr als vier Jahre her, dass ich dieses Repertoire das letzte Mal gesungen habe. Ich spürte ein großes Bedürfnis, mich mehr auf meine eigene Musik zu konzentrieren und auch zu meinen systematischeren Gesangsstudien zurückzukehren. Ich fühle mich immer noch mit diesem Repertoire verbunden, da es sehr stark mit der modernen Geschichte meines Landes und auch mit den sozialen und politischen Kämpfen der griechischen Linken zu tun hat. Doch obwohl ich mich der Erinnerung verpflichtet fühle, will ich auch aktiv handeln. Deshalb habe ich nicht vor, dieses Repertoire erneut aufzuführen.
Ist dies ein eigener, von deinen experimentellen Projekten getrennter Bereich, oder gäbe es auch einen Weg, beides zusammenzubringen?
Diese Songs werden in Griechenland als “populäre Kunstlieder” bezeichnet und gelten als eine von Populärmusik unterschiedene Kategorie. Es waren hybride Songs (griechische Poesie von hoher Qualität kombiniert mit populären Musikformen, die aus der urbanen Rembetiko-Musik stammen), die erfolgreich versuchten, die moderne griechische Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg neu zu definieren. Ihre Bezüge, ihre Wurzeln sowie die Intention ihrer Komponisten und Dichter sind sehr klar. Wer mit diesen Liedern arbeitet, muss diese Absicht verstehen und respektieren. Experimentelle Musik ist ein anderes Universum.
Ist Ihre Gruppe Liminal Vanguard noch aktiv und gibt es Pläne für künftige Aufnahmen?
Liminal Vanguard ist schon seit einiger Zeit auf Eis gelegt, weil wir alle in anderen Projekten parallel arbeiten. Es gibt einiges an aufgenommenem Material, aber noch nicht genug für ein Album. Eigentlich sind wir nicht sicher, ob wir ein Album aufnehmen wollen. Wir bleiben als Kollektiv bestehen, wir spielen zusammen und alles weitere wird sich zeigen.
Wird es irgendwann so etwas wie einen zweiten Teil zu “Heterotopia” geben, oder gehen deine Pläne in eine andere Richtung?
Im Dezember erscheint eine neue Doppel-CD auf Underflow Records. Es ist ein kollaboratives Album der freien Improvisation, eine Zusammenarbeit zwischen dem japanischen Shó-Spieler Ko Ishikawa, Harris Lambrakis – ein griechischer Meister des aus dem Nahen Osten stammenden Ney, Nikos Sidirokastritis – einer der interessantesten Schlagzeuger in Griechenland, Giorgos Varoutas – ich habe schon über ihn und mich gesprochen. Die Aufnahme wurde im Januar letzten Jahres in Athen gemacht, und wir sind alle sehr enthusiastisch, was ihre Veröffentlichung angeht. Der Titel des Albums ist “The Depths Above”.
Interview: U.S. / A. Kaudaht – Übersetzung: U.S.
Fotos © Constantinos Lepouris