Im japanischen Volksglauben ist Nue ein Chimärenwesen, dessen Körper aus Elementen des Affen, des Tigers, der Marderhundes und der Schlange besteht. Es kann seine Gestalt verändern und gilt als Unglücksbote. Zugleich bedeutet das Wort auf französisch „nackt“, und der Soundartist Tashi Wada hatte beides im Sinne, das Verstörende und Widersinnige als auch den von allen überflüssigen Komplexitäten freien, nackten Ausdruck, als er den Titel für sein erstes Album mit seinem Vater Yoshi, einem Veteranen der Fluxus-Bewegung, aussuchte.
„Nue“ ist an der Basis ein dröhnendes Werk, beachtet man aber die verschiedenen Beigaben, die die meist hell klingenden Drones entweder konstituieren oder mit unerhörten Ereignissen durchbrechen, kommt einem das japanische Fabelwesen eher in den Sinn als die französische Nacktheit: Neben Tashi Wadas Dudelsack, der in unterschiedlicher Verfremdung vielen Stücken das Fundament gibt, sind u.a. Xylophon, Piano, Akkordeon, Cembalo, Orgel und Streicher zu hören, und laut Liner Notes hatten Vater und Sohn die Tracks schon im Hinblick auf einzelne Interpreten hin komponiert, ähnlich den Gesangsbeiträgen von Julia Holter, Simone Forti, Cole MGN und Corey Fogel.
Was durch das Zusammenwirken der wechselhaften Komponenten erzeugt wird, ist allem voran Spannung. Ob sich feinkörnige Drones intensivieren und dabei mehr und mehr an Fahrt gewinnen, ob mit kindlichen Glockenspiel, erdigem Cello und einem lieblichen Sopran eine etwas zu schöne Besinnlichkeit aufkommt, ob raschelnde Becken und rollende Tomtoms dazwischenfahren und einen Sturm einläuten – immer wieder entsteht der Eindruck, dass etwas in Bewegung kommt, und jedes mal lässt die Musik diese Spannung lange genug andauern, so dass sie intensiv erlebt wird und kein Eindruck des Erratischen aufkommt. Es sei denn, man deutet die verspielten Momente, das Hoch- und Runterleiern von Teilen der Tonleiter, das einernde Spiel mit dem Tempo und dergleichen so. Letztlich tragen diese humoresken Details aber zu dem Effekt bei, der sich bei „Nue“ ohnehin einstellen muss, nämlich dass man schnell vergisst, nämlich dass es sich trotz seiner Lebendigkeit immer noch um ein realtiv abstraktes Werk handelt.
Das Album ist vor kurzem in den üblichen Formaten erschienen, ein Teil seiner Einnahmen kommt dem National Immigration Law Center zu, das sich für die Rechte von Migranten mit geringem Einkommen einsetzt.
Label: RVNG Intl.