Auch ohne das Cover, dass die Anfang August durch zwei Explosionen zerstörte Hafenanlange in Beiruts Bezirk Mar Mikhael zeigt, könnte man die jüngst erschienene Veröffentlichung von Charbel Haber kaum anders als im Kontext der verheerenden Ereignisse sehen. Gewidmet ist das knapp dreiviertelstündige One Track-Album der Hundertjahrfeier des Libanon am 1. September, den der in Beirut geborene Komponist und Musiker, der in seinen Titeln häufig Metaphern des Verfalls und der Dekompostierung verwendet, recht unverblümt als “decaying Nation” bezeichnet.
Der am östlichen Rand des Mittelmeeres liegende Libanon ist ein kleines und vielseitiges Land, das bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein von zahlreichen, in der Mehrzahl fremden Mächten – u.a. Phöniziern, Griechen, Römern, Byzantinern, Arabern, Osmanen, Franzosen – beherrsscht wurde und so ein reichhaltiges Kulturpalimpsest aufweist, das sich in der Architektur und allen anderen Künsten, im Alltagsleben, in der Sprache und nicht zuletzt in den Religionen ausdrückt, die vielleicht nirgendwo im sogenannten Nahen Osten so vielfältig koexistieren wie dort. Nach der Unabhängigkeit galt der Libanon lange Zeit als Hoffnungsträger der Region und Beirut mauserte sich zu einer internationalen Metropole. Etwas selbstgefällig bezeichnete man das Land in unseren Breiten gerne als Schweiz des Nahen Ostens und als dasjenige arabischsprachige Land, das am europäischsten anmutet – sicher aufgrund seines bergigen und grünen Charakters, aber auch aufgrund der großen christlichen Bevölkerungsgruppen, die seit jeher ein Andockpotenzial für europäische Besucher hatten.
Mit der Zeit verdüsterten sich die Schlagzeilen, die immer mehr von den Uneinigkeiten in der Richtungssuche des Landes geprägt waren, und spätestens seit dem Bürgerkrieg der 70er und 80er Jahre, in den das Land zum Teil durch die Außeinandersetzungen der Israelis und Palästinenser gezogen wurde, sah man fast nur noch Trümmer und Leichenberge. Aus dem Geheimtipp für Hedonisten wurde ein locus horribilis, die Blaupause des finstersten Klischees über den Nahen Osten. In den Jahren danach, die durchaus Aufbaujahre waren, sorgten Korruption und Misswirtschaft dennoch für eine (freundlich formuliert) mittelprächtige Situation, der die Corona-Pandemie eine kleine, die darauf folgenden Explosionen schließlich eine große Krone aufsetzte.
Wenn der Meisterdröhner Haber (u.a. Scrambles Eggs, BAO, The Bunny Tylers, Oiseaux-Tempête) den Schauplatz des Unglücks zum Sinnbild für die Unabhängigkeit seines Landes erklärt und die Eindrücke, die sich in die Psyche der Beiruter eingebrannt haben wie vielleicht kein Ereignis seit dem Bürgerkrieg, als “Delightful Sights and Sounds” bezeichnet, erwartet man ein dunkles, vor Sarkasmus triefendes Werk. Auf den ersten Eindruck wirkt die Musik v.a. melancholisch, aber es ist eine verschwommene Melancholie, in der man sich nicht ausruhen kann. Gleich zu Beginn, wenn eine leicht elektrifizierte Gitarre vor verrauschter Kulisse wehmütige Zeichen in die Luft malt, stellt man fest, dass hier jede feste Form fehlt und allenfalls zum Schein existiert, alles ist in unsicherer Bewegung. An Orgel erinnernde Sounds fügen sich ein und weichen undefinierbaren Details disharmonischer Art, und all diese Elemente entwickeln ihre einenen Gangarten und Rhythmen, die sich auf reizvolle Art duellieren. Bis alles sich wieder auflöst und neuen Formen Raum gibt. Dieses Fließende, das sich ständige neu justierende aus Harmonie und Disharmonie, aus Schönem, Erhabenem und Verstörendem, aus Abstraktion und kleinen Songansätzen, aus maschineller Härte und fast sentimentaler Lieblichkeit findet seine Entsprechung im Covermotiv der Ruine, die auf merkwürdige Art an einen Wasserfall erinnert.
Das ganz leise, traurige Nachspiel nach dem letzten Aufballen der Soundsubstanz scheint mir wie ein Fazit dazustehen, dass es beim getrübten Hundertjahrestag noch weniger zu feiern gibt. Trotz allem fehlt auch hier der nötige Idealismus nicht, denn der Erlös des Albums kommt einer Spendeninitiative der Beiruter Tunefork Studios zugute.
Label: Discrepant