Beirut’s Underground Music Scene: Foto- und Textdokumentation von Hajar Ibrahim

Über die in Beirut ansässige Middle-East-Dependence der Heinrich Böll-Stiftung ist mit Hajar Ibrahims “Beirut’s Underground Music Scene” gerade ein knap 80 Seiten umfassender Band über die vielfältigen experimentell ausgerichteten Musikszenen der libaneischen Hauptstadt erschienen. Beirut ist seit Jahren immer mehr auch international für seine  Produktivität in Bereichen wie experimenteller Elektronik und Klangkunst, in der Improvisation und im Postpunk, aber auch im Noise- und Psych-Rock, in folkig angehauchter Avantgarde und in allerlei dröhnenden und lärmenden Künsten bekannt, in denen sich immer wieder ganz eigene kreative Handschriften bemerkbar machen. Die sowohl im Hardcover als auch als kostenloses PDF erhältliche Publikation porträtiert die Stadt und ihre Sounds sowohl in unprätentiösen Fotografien als auch in Texten, bei denen die Musikerinnen und Musiker, die DJs, Store Owner und Studioleute meist selbst zu Wort kommen. Neben der Musik selbst und den verschiedenen Perspektiven auf die Stadt werden eine Vielzahl von Themen besprochen: frühe interaktive Plattformen, Finanzierungsprogramme, Clubs und andere Zentren, Konzerte auf Dächern, Festivals, dem AUB-Campus und dem bekannten ehemaligen Kino, dessen Form heute an ein geköpftes Beton-Ei erinnert. Die Bilder stammen größtenteils aus Hajar Ibrahims eigener Kamera, die manchmal die Metropole verlässt und Vororte wie Bourj Hammoud oder reizvolle Ortschaften wie das in den Bergen gelegene Hammana einbezieht, daneben finden Aufnahmen von Tanya Traboulsi und Marco Bozerji ihren Platz. In seiner kurzen Einleitung setzt Ibrahim die kreative Stadt, die wie er betont mehr für seine experimentierfreudigen kulturellen Seitenpfade als für den populären Mainstream bekannt ist, in einen angemessenen Kontext zu Ereignissen der jüngeren Geschichte. Weiterlesen

SANAM: Aykathani Malakon

Zu den reichhaltigsten Platten, die in diesem Jahr das Licht der Welt erblicht haben, zählt fraglos “Aykathani Malakon” der libanesischen Band Sanam, die so etwas wie eine Supergroup ist, da ihre Mitglieder alle in anderen Bands oder solo aktiv sind und in ihrem Land keineswegs unbekannt. Mindestens im Falle der Sängerin Sandy Chamoun, des Drummer Pascal Semerdjian und des primär für die Elektronik zuständigen Anthony Sahyoun sollte das auch bei unseren Lesern gelten, und auch die Weiterlesen

Kaput: Bernard Hage alias The Art of Boo mit neuem Album

In Kürze erscheint das zweite Album des in Berlin lebenden libanesischen Pianisten und Komponisten Bernard Hage, der unter dem Namen The Art of Boo firmiert. “Kaput”, das neun feinsinnige Stücke für Piano enthält, entstand über einen Zeitraum von rund drei Jahren und dokumentiert chronologisch die Empfindungen des Künstlers unter den Eindrücken zahlreicher äußerer Ereignisse: Politische Unruhen in Libanon, die 2019 in den lautstarken Protesten bereits einen frühen Höhepunkt erlangten, die Pandemie, die finanzielle und ökonomische Krise des Landes, die verheerende Explosion im Hafen von Beirut und letztlich der Umzug Hages nach Berlin bilden nicht nur einen Weiterlesen

AYA METWALLI / CALAMITA: Al Saher

Schon in den ersten Minuten von “Al Saher” kann man spüren, dass hier Musiker am Werk sind, die es meisterhaft verstehen, recht unterschiedliche Elemente zu einem runden, wenn auch ungewöhnlichen Ganzen zu verknüpfen. Zwischen prägnanten Donnerschlägen, die sich in regelmäßigen Intervallen wiederholen, schlängelt sich ein trancehafter Mezzo-Sppran in Arabisch in den Vordergrund, und wenn irgendwann Weiterlesen

Enfin La Nuit: Charbel Haber und Fadi Tabbal mit neuer LP auf Nahal Recordings

Die beiden libanesischen Musiker und Klangkünstler Charbel Haber und Fadi Tabbal bringen just eine gemeinsame LP unter dem Titel “Enfin La Nuit” heraus – das vier auf sehr unterschiedliche Weise ambiente Tracks umfassende Werk war als Soundtrack zu einem experimentellen Film des Regisseurs Nadim Tabet konzipiert, in welchem die beiden Musiker auch als Schauspieler mitwirken. Der Titel bedeutet im Deutschen so viel wie “endlich Nacht” und steht der genügsamen Abgeklärtheit und der erholsam wirkenden Ruhe, die sich in der einen oder anderen Form immer wieder in den Tracks findet, gut zu Gesicht. Im Film steht allerdings gerade das Nachtleben Beiruts und die Location AHM im Zentrum des Stoffes, was diesem eine interessante, und reizvolle Ambiguität gibt. Die Musik, deren unaufdringliche Melancholie ohne aufgesetzte Sentimentalität auskommt, basiert primär auf Gitarre und Synthesizer und verdankt ihre finale Gestalt auch einigen markanten Techniken und Effekten, welche Weiterlesen

Ich hatte das Gefühl, dass die Stadt Zeuge einer Gewalt war, die niemand erwähnen wollte. Interview mit Mayssa Jallad

Anfang des Jahres erschien das erste Soloalbum der libanesischen Sängerin, Musikerin und Architektin Mayssa Jallad, die zuvor bei der Band Safar und in einigen weiteren Konstellationen in Erscheinung getreten ist. Das international mit großem Interesse rezipierte “Marjaa: The Battle of the Hotels” erzählt in melancholischen Folksongs und ebenso in zerfledderten Eruptionen die Geschichte des Hotel District im Zentrum Beiruts, das zu Beginn des libanesischen Bürgerkriegs Schauplatz und zugleich Akteur wesentlicher Weiterlesen

I felt that the city had witnessed a violence that nobody wanted to mention. Interview with Mayssa Jallad

The first solo album by Lebanese singer, musician and architect Mayssa Jallad, who previously appeared with the band Safar and in several other constellations, was released at the beginning of the year. “Marjaa: The Battle of the Hotels” tells the story of the Hotel District in the centre of Beirut in melancholic folk songs and also in tattered eruptions. At the beginning of the Lebanese civil war, the Hotel District became the scene and at the same time a prominent actor of essential Weiterlesen

Past and Future: Fundraising-Compilation für die Beirut Heritage Initiative

Das libanesische Label System Revival Recordings hat gerade eine Compilation mit lokalen Acts aus verschiedenen Bereichen experimenteller, elektronischer und elektroakustischer Musik für ein Fundraising-Projekt zusammengestellt. Der Erlös der Aufnshmen geht der Beirut Heritage Initiative zu, eine Initiative, die sich dem Erhalt bestehender Bausubstanz aus verschiedenen historischen Epochen widmet und die so auch ein Zeichen gegen die kommerziell motivierte Veränderung der Stadt setzt. Das Haupttziel ist der Wiederaufbau von Gebäuden, die bei der Explosion im Hafen der Stadt beschädigt und zerstört wurden. Weiterlesen

MAYSSA JALLAD: Marjaa

Die libanesische Hauptstadt Beirut galt in den mittleren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als kulturell reizvolle und wirtschaftlich aufstrebende moderne Metropole, mit deren Image als internationale Projektionsfläche im Nahen und Mittleren Osten damals vielleicht nur Teheran mithalten konnte. Da die Stadt bei Geschäftsreisenden und Urlaubern beliebt war, avancierte in den 60ern und frühen 70ern v.a. der Hoteldistrikt, ein Weiterlesen

SANDY CHAMOUN: Fata17

Der 17. Oktober ist seit drei Jahren ein im Libanon jedem bekanntes Datum, denn an diesem Tag 2019 brachen in vielen Orten des Landes, v.a. aber in der Hauptstadt Beirut Proteste gegen die politische und ökonomische “Elite” des Landes aus. Ging es zunächst um horrende Steuererhöhungen, denen nichts, wie man unbedarft vermuten könnte, sozialstaatliches anhaftete, so kamen mit der Zeit immer mehr Themen zur Sprache, die lange Weiterlesen

ELYSE TABET / PASCAL SEMERDJIAN / YARA ASMAR: Low Toms Bright Bells and Darkest Spells

Kein leises, bedächtiges Intro führt einen behutsam in die Welt von “Low Toms Bright Bells and Darkest Spells”, denn das Album, das Elyse Tabet zusammen mit zwei weiteren interessanten libanesischen Musikern – Pascal Semerdjian und Yara Asmar – aufgenommen hat, beginnt gleich mit einer erwartungsvollen Spannung. Ein dezentes, aber kaum leises elektronisches Vibrieren bildet den federnden Hintergrund für kraftvolle Drums, die über Weiterlesen

V.A.: Beirut Adrift

Rayya Badran ist eine international tätige Autorin, Übersetzerin und Kunsttheoretiketin mit Homebase in der libanesischen Hauptstadt Beirut, wo sie außerdem beim Radio sowie als Lehrerin und Hochschuldozentin arbeitet. Zusammen mit der von der Schweiz aus arbeitenden Organisation Norient City Sounds, die die typischen musikalischen wie nicht im herkömmlichen Sinne als musikalisch gelesenen Klänge von Städten erforscht und in einer virtuellen Weiterlesen

Home Recordings: Tape-Debüt von Yara Asmar

Die junge libanesische Musikerin und Künstlerin Yara Asmar bringt auf Hive Mind Records ihr Debütalbum auf Tape heraus. Wie der Titel “Home Recordings 2018-2021″ nahelegt, entstanden die meist auf leisen Sohlen daherkommenden Aufnahmen im Heimstudio und wurden in den vergangenen Jahren nach und nach mit Tapegerät und einem Telefon aufgenommen. Was an den Stücken besonders beeindruckt, ist neben der verträumt melancholischen Aura, die in ihrer dezenten Verhuschtheit immer auch Raum für starke, emporgehobene Momente gewährt, die Vielgestaltigkeit der Sounds. Diese geht auf eine Vielzahl an Klangquellen zurück, zu denen klassische und elektronische Instrumente wie zweckentfremdete Objekte und Samples zählen. Das Album ist auch digital erhältlich. Weiterlesen

CHARBEL HABER: The Delightful Sights And Sounds Of A Decaying Nation

Auch ohne das Cover, dass die Anfang August durch zwei Explosionen zerstörte Hafenanlange in Beiruts Bezirk Mar Mikhael zeigt, könnte man die jüngst erschienene Veröffentlichung von Charbel Haber kaum anders als im Kontext der verheerenden Ereignisse sehen. Gewidmet ist das knapp dreiviertelstündige One Track-Album der Hundertjahrfeier des Libanon am 1. September, den der in Beirut geborene Komponist und Musiker, der in seinen Titeln häufig Metaphern des Verfalls und der Dekompostierung verwendet, recht unverblümt als “decaying Nation” bezeichnet. Weiterlesen

The Sacred Rage: Fundraising-Compilation für Beirut auf Morphine Records

Das in Berlin ansässige Label Morphine Records hat eine genreübergreifende Fundraising-Compilation herausgebracht, deren Erlös den Betroffenen der Explosionen zugute kommt, die sich am 4. August im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut ereigneten. Empfänger der Einnahmen sind verschiedene Organissationen, die sich vor Ort um Lebensmittel, medizinische und technische Unterstützung kümmern. Musikalisch decken die zwölf Tracks eine Bandbreite von Neuer Musik über Soundkollagen, Improv und diverse Electronica bis zu folkig angehauchten Akustikstücken ab. Weiterlesen

Retrieving Beirut: Benefiz-Compilation in vier Teilen

Syrphe Records haben eine vierteilige, digital erhältlich Compilation zusammengestellt, deren Erlös mehreren Organisationen zukommt, die sich um die notwendigsten Angelegenheiten zur Bewältigung der aktuellen Situation in der libanesischen Hauptstadt Beirut kümmern. Knapp hundert Acts aus zahlreichen Ländern haben Beiträge zur Verfügung gestellt, einige davon sind exklusiv.
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TWO OR THE DRAGON: Prelude to the Triumpant Man

Die drei Stücke, die auf der vorliegenden EP unter dem Titel “Prelude to the Triumpant Man” eingespielt wurden, wirken tatsächlich wie ein Vorspiel, ein erstes Zusammenbrauen von etwas Wuchtigem, das sich im dritten und letzten Teil Bahn bricht und dessen endgültige Gestalt doch eine Leerstelle bleiben muss. Fraglos liegt darin ein zentrales Faszinosum des knapp zwanzigminütigen Minialbums. Weiterlesen

PHAROAH CHROMIUM: Jean Genet Quatre Heures à Chatila

Auf den ersten Blick erinnert Shatila nicht unbedingt an ein Flüchtlingslager im Nahen Osten. Es stehen dort keine Zelte und Bretterbuden, sondern drei- bis vierstöckige, wenn auch windschiefe Häuser, und wenn es nur darauf ankäme, könnte man es für ein weiteres Stadtviertel in den südlichen Vororten Beiruts halten, in denen es, wie oft in Ballungszentren, immer noch innenstädtisch zugeht. Weiterlesen

V.A.: Anthology of Electroacoustic Lebanese Music

Im Zentrum von Beirut, nicht weit von der Downtown und dem chicen Place de l’Etoile und in direkter Nachbarschaft der größten Moschee und der größten maronitischen Kathedrale der Stadt, zieht ein fast ovaler grauer Betonbrocken die Aufmerksamkeit eines jeden Neuankömmlings auf sich. Es handelt sich um das 1965 für tausend Besucher gebaute Kino Dome, das heute von den Einheimischen nur “das Ei” genannt wird. Flaniert man seitwärts die Bechara El Khoury-Straße entlang, sieht man schnell, dass die komplette Südseite fehlt – das Gebäude ist seit Weiterlesen