Vor einigen Wochen brachte die in Berlin lebende Cellistin und Komponisten Martina Bertoni ihr mittlerweile drittes Soloalbum heraus. “Hypnagogia” (Karlrecords), bei dem erneut ihr meist elektronisch verfremdetes und somit nicht immer gleich erkennbares Stamminstrument im Zentrum steht, ist eine zum Teil von Stanislav Lems Roman Solaris inspirierte Erkundungsreise in die Grenzregionen zwischen Wachzustand und Schlaf, einer Phase, in der der Einschlafende die unterschiedlichsten sinnlichen Halluzinationen erleben kann. Das Mysterium, das der Eintritt in einen anderen Bewusstseinszustand zwangsläufig bedeutet, wird auf dem Album in sechs spannenden, oft wehmütig eingefärbten Soundscapes nachgezeichnet, die in ihrer Machart und Atmosphäre an den Vorgänger “Music for Empty Flats” anknüpfen, in dem ebenfalls das Betreten neuer Orte ein Thema war. Vor ihrer Solokarriere arbeitete Bertoni, deren Weg von Norditalien über Rom und Reykjavik nach Berlin führte, für Filmsoundtracks und in verschiedenen Ensembles. Hierzulande waren v.a. ihre Arbeiten mit Teho Teardo, zu denen auch zwei Alben mit Blixa Bargeld gehörten, bekannt. Über viele dieser Themen und einiges mehr geht es im folgenden Interview.
In fast jedem Interview wirst du nach deinen Anfängen mit dem Cello in deiner Kindheit gefragt, ich glaube, du warst sechs Jahre alt und es muss Liebe auf den ersten Ton gewesen sein. Erinnern du dich noch an die ersten Assoziationen, die du besonders beim Klang dieses Instruments hattest?
Es ist irgendwie seltsam, diese Momente zu beschreiben, da ich in meinen frühen Kindheitserfahrungen fischen muss, aber ich hatte immer dieses körperliche Resonanzgefühl beim Hören und auch beim Spielen des Cello.
Kommst du aus einer musikbegeisterten Familie? Was sind deine frühesten musikalischen Erinnerungen?
Meine Mutter war schon immer eine gute Musikhörerin, seit ich ein Baby war hat sie viel klassische Musik im Haus gespielt: Meine frühesten Erinnerungen sind Mozart, Strawinsky und Vivaldi. Die ersten etwa drei oder vier Jahre meines Lebens lebten wir in einer kleinen Wohnung in Mailand und ich erinnere mich lebhaft, dass einer unserer Nachbarn für eine Plattenfirma in der Stadt arbeitete. Dieser Mann hat uns immer Tonnen von Vinyls jeglicher Art gegeben. Ich bin von ihnen umgeben aufgewachsen. Auch mein Großvater liebte die Oper. Ich habe diese Erinnerungen an ihn, wie er eine Pfeife rauchte, während er klassische Musik auf seinem Kassettendeck spielte und dazu sang.
Warst du als Teenager sowohl an klassischer als auch an populärer Musik interessiert?
Meine Jahre am Conservatorium waren geprägt von einem erzwungenen Wettbewerb, unter dem ich sehr gelitten habe. Mein Lehrer mochte mich nicht und ich revanchierte mich. Meine Teenagerjahre sind die frühen 90er … Was in der Underground-Musik passierte, war viel zu interessant und so viel attraktiver, als in einer Celloklasse zu sitzen und zu hören, ich sei nicht gut genug.
Also fing ich an, während der Oberstufe in Rock-und-was-auch-immer-Bands zu spielen und herumzuexperimentieren. Ich erinnere mich, dass mir mindestens ein paar Mal mit dem Rauswurf aus der Musikschule gedroht wurde, weil ich erwischt wurde, wie ich ohne offizielle Genehmigung auf Gigs spielte. Außerdem wollte ich mit meinen Freunden ein bisschen cool sein, trotzdem fühlte ich mich immer ein bisschen wie ein Weirdo.
Bevor du vor rund sieben Jahren deine ersten Soloaufnahmen veröffentlicht hast, hast du mehrere Jahre in Ensembles gespielt. War es für dich eine große Umstellung, plötzlich als Solokünstlerin zu arbeiten? Was waren die größten (und lohnendsten) Herausforderungen?
Ich würde es nicht als Herausforderung bezeichnen, das Spielen mit und für andere Menschen war schon immer ein interessanter Entdeckungs- und Lernprozess. Das allererste Mal, dass ich alleine spielte, war eine Gelegenheit, mich nur mir selbst zu stellen, also musste ich alle Praktiken und Gewohnheiten, die ich bis dahin verwendet und gelernt hatte, beiseite legen und meinen eigenen musikalischen Weg suchen.
Die lohnendste Herausforderung ist immer, mitzuerleben, wie eine Idee nach und nach Gestalt annimmt und zu einem fertigen Stück wird.
Ich habe das Gefühl, dass Soloarbeit oft eine ebenso starke Verbindung zu anderen und zur Interaktion hat wie Kollaborationen, nur auf eine andere Art und Weise. Wie siehst du das?
Bei der Zusammenarbeit gibt es ein hohes Maß an Austausch, verbal und nonverbal, materiell und immateriell, für einen gemeinsamen Zweck. Bei der Alleinarbeit ist der Austausch mit anderen Menschen immer präsent, hat aber andere Nuancen und Schwerpunkte.
Diese Entwicklung fand in der Zeit statt, als du auch von Rom nach Berlin gezogen bist. Spielten das neue Umfeld und die große Musik-Community der Stadt da auch eine Rolle?
Die Migration war eine Entscheidung, die viele Herausforderungen mit sich brachte, einige schöne und einige schwierige, aber jetzt bin ich sehr glücklich, hier zu sein.
Ich habe mich für Berlin entschieden, weil es mich schon immer interessiert hat. In der ersten Zeit interessierte mich das Musizieren weniger. Ich brauchte einen Job und ich brauchte Zeit, um die Veränderungen zu verarbeiten, die damals in meinem Leben stattfanden.
Trotz alledem war der Umzug hierher ein Hauch frischer Luft, und die Erkenntnis, dass ich von einer so großen und vielfältigen künstlerischen Szene umgeben war, löste sicherlich einige gute Veränderungen aus.
Hat die Pandemie deine Arbeitsweise und deine Einstellung dazu in irgendeiner Weise verändert?
Ich entdeckte, dass ich es genoss, mich aus dem ganzen Trubel herauszuhalten, was nur bestätigte, dass ich ein ziemlich zurückgezogener Mensch bin.
Wie hast du dir selbst die Arbeit mit Elektronik beigebracht und was waren dabei deine ersten Schritte?
Ich versuchte zu lernen, indem ich anderen dabei zusah, viel Musik hörte und so viel wie möglich las. Dann versuchte ich, meinen eigenen Weg in diese Tools zu finden, die zu meiner Umgebung passen könnten.
Hast du auf deinen letzten Alben auch elektronisch erzeugte Klänge verwendet, oder ist es nur (meistens bearbeitetes) Cello? Worin liegt für dich der spielerische Reiz der Bearbeitung und Verfremdung von Klängen?
In Hypnagogia habe ich einen monophonen Synthesizer und hier und da einen granularen verwendet. Um es aufzuschlüsseln, würde ich sagen, es sind 10 % Synthesizer, 10 % meiner Stimme, 1 % Field Recordings, der Rest ist bearbeitetes Cello.
Für mich ist die Bearbeitung von Celloklängen die Art, wie ich elektronische Musik mache, das Cello ist das Instrument, das für mich keine Geheimnisse hat. Ständig einen Weg zu finden, es zu behandeln, ist für mich ein lohnender Entdeckungsprozess.
Ich gehe davon aus, dass du viel improvisierst, was den Aufbau und den “Plot” deiner Stücke betrifft, und dass sich viele Ideen nach und nach entwickeln. Hast du trotzdem vorher so etwas wie eine Vorstellung von der Atmosphäre der Musik?
Ich bin keine Improvisationsmusikerin, normalerweise improvisiere ich nicht, wenn ich Musik skizziere. Ich gehe normalerweise von einer definierten musikalischen Idee aus, die bereits in meinem Kopf zu hören ist, und arbeite anschließend daran, sie bestmöglich umzusetzen. Wie lange es dauert, ein Stück vollständig zu entwickeln, hängt davon ab, wie viel Druck ich auf mich selbst ausübe. Ich möchte mir das, was ich aufnehme, so oft wie möglich anhören. Allerdings bin ich da relativ schnell unterwegs.
“Hypnagogia” ist stark von bestimmten Darstellungen in Stanislaw Lems Roman Solaris inspiriert. Was genau hat dich daran angezogen?
Ich hatte bereits einen großen Teil der Tracks für Hypnagogia aufgenommen, als ich anfing, Solaris wieder zu lesen. Das Lesen des Buches passte einfach zu der Musik, die ich schrieb. Ich hatte das Gefühl, dass es eine Verbindung zu dem gab, was die Charaktere in dem Buch erlebten, ihrem veränderten Zustand – mit und ohne Gewissen – und der unheimlichen und mächtigen Präsenz eines Planeten. Eine Art katastrophale Melancholie, die wirklich mit mir und der Musik, die ich geschrieben hatte, mitschwingt.
Deine beiden neueren Alben „Music for Empty Flats“ und „Hypnagogia“ beziehen sich auf ganz unterschiedliche Orte und Bewusstseinszustände. Hatten diese Unterschiede Auswirkungen auf deine Arbeitsweise und auf die Musik?
Nein, es ist einfach die Art Musik, die bei dem was ich mache, entsteht.
Würdest du sagen, dass das Betreten einer Art Neuland eine der Gemeinsamkeiten der beiden Alben ist und dass die damit verbundenen Gefühle von Neugier und gleichzeitiger Unsicherheit auch die Musik prägen?
Ich habe nie daran gedacht, aber es freut mich, dass du es so siehst. Ich fühle mich auf jeden Fall sehr wohl, wenn ich nicht weiß, was als nächstes kommt.
Ich hatte den Eindruck, dass gerade bei „Hypnagogia“ die Illusion von Materialität eine (auch narrative) Rolle spielt, man meint, hölzerne, metallische und aquatische Klänge zu hören, wobei die ersten beiden nicht einmal Illusion sein müssen. Hast du diese Details bewusst integriert?
Nein, ich wollte den Moment darstellen, in dem man sich in einem Raumschiff auf die Sonne zubewegt und dann bemerkt, dass man keine Kontrolle mehr hat, oder auch die Vision eines riesigen Meteoriten, der sich der Erde nähert.
Die Klangbeschaffenheit im Track „From E to W“ erinnert mich sehr an gestörte oder unterbrochene Signale bei einer akustischen Übertragung. Für mich passt es sehr gut zum Thema Raumfahrt/Solaris und dem Gefühl, ganz weit weg von anderen und vom gewohnten Leben zu sein. Ist dieses Gefühl auch Teil der Erfahrung der hypnagogischen Reise, die du beschreibst?
Das bringt mich zum Schmunzeln, denn die Field Recordings, die in diesem Track verwendet werden, stammen von meinen Pendelfahrten zur Arbeit mit der S-Bahn, vom Alex zum Zoo. Also ja, es sind Raum- und Zeitreisen, die vom gewohnten Leben ausgehen, geteilt mit vielen anderen, das sich in etwas anderes verwandeln kann.
Dein jüngstes Album wurde von vielen Rezensenten unter anderem als Ambient eingestuft. Diese Bezeichnung passt für mich am besten zu einer Musik, die unterschwellig ihre volle Wirkung entfaltet und die daher nicht zu bewusst und konzentriert gehört werden sollte. Würdest du sagen, dass dies auch bei „Hypnagogia“ der Fall ist – und bei deiner Musik im Allgemeinen?
Aus vielen Gründen ist es manchmal notwendig, ein Genre als Referenz zu finden. Ich würde “Hypnagogia” und meine anderen Veröffentlichungen im Interesse der Rezensenten in die Kategorie Ambient-Drone einordnen, aber wir sollten mit Definitionen sehr flexibel sein.
Ich erinnere mich, dass das erste Konzert, das ich von dir gesehen habe, ein Cello-Duett mit Munsha war. Im Gegensatz zu dir – du hast als Kind Cello spielen gelernt und eine formelle Ausbildung auf dem Instrument genossen – ist Munsha eigentlich ausgebildete Sängerin und hat erst relativ spät zum Cello gegriffen. Sprecht ihr beide eine sehr unterschiedliche künstlerische Sprache und wenn ja, wie bestimmt das eure kreative Kommunikation?
Das Schöne ist, Gemeinsamkeiten zu finden, obwohl wir von verschiedenen Orten kommen. Ich denke, wir teilen beide eine unglaubliche Neugier für die Erfahrungen der anderen.
Im Interview auf Digital in Berlin hast du als “first fact” über dich selbst gesagt, dass “Veränderung tröstet“”. Denkst du bereits an zukünftige Transformationen?
Nicht wirklich, ich bin beruhigt, dass alles gut läuft, und ich genieße sehr, wie es gerade ist.
Fotos © Sybille Fendt
Interview und Übersetzung: U.S., W.W.