V.A.: Invisible Comma

Dass Italien einige der produktivsten Communities für experimentierfreudige Musik und Klangkunst hat, ist weitgehend bekannt, und um dies zu belegen, muss man nicht einmal bis zu Luigi Russolos Rumorarmonio zurückgehen, es genügt schon – und das sage ich in gebührender Bescheidenheit aus Ehrerbietung vor dem Thema – ein Blick auf unsere Seiten. Ein großer Bereich innerhalb dessen war stets die Produktion von Filmmusik (wer kennt sie nicht, die Werke aus der Generation von Morricone, Nicolai, Macchi und Ortolani oder die proglastigen Scores von Bands wie Goblin?) und dem, was meist mit dem englischen Begriff der Library Music beschrieben wurde: Produktionen, die speziell für eine mediale Nutzung angefertigt werden und eingebunden in ein spezifisches Lizenzsystem meist nicht im regulären Tonträgerhandel erhältlich sind.

Spricht man vom cinematischen Charakter einer Musik, dann ist damit bei aller Ungenauigkeit des Begriffs meist eine Qualität gemeint, die auf gewisse Weise eine Zwischenstellung zwischen tatsächlicher Filmmusik und den genannten Stockproduktionen einnimmt – das Potenzial einer Komposition, bewegte Bilder zu begleiten und sich so zur atmosphärischen Steigerung in deren Dramaturgie einzufügen. Mit der Compilation “Invisible Comma”, deren Cover eine halbsezierte Menschmaschine zeigt, haben die Betreiber des Trieste Science+Fiction Festival, das in den Tagen um Halloween in der weißen Stadt an der Adria stattfinden wird, eine Anthologie zusammengestellt, die eine große Bandbreite filmtauglicher Musik aus Italien präsentiert. Den Löwenanteil bestreiten tendenziell düstere Produktionen, die wie dafür gemacht scheinen, geheimnisvolle innere und äußere Welten zu erkunden.

Eröffnet wird die Sammlung von dem Track “Permacrisis” des aus Apulien stammenden Drummers und Elektroakustikers Marco Malasomma, der unter seinem Nachnamen firmiert. Das eindringliche Stück beginnt mit einer Alarmsirene, die Unheilvolles erahnen lässt und bald zu einem geloopten Kanon von Sirenen heranwächst, unter den sich irgendwann eine ähnlich unheilvolle Dröhnung schiebt. Irgendwann löst sich das ganze beinahe in einem zittrigem Tremolieren auf, und wenn die Sirenen wiederkehren, entsteht fast so etwas wie eine beruhigende Vertrautheit. Das sardinische Projekt Confrontational geht mit “Possession” in eine ganz andere Richtung, hier dominieren verspielte Synthie-Loops, verzerrter Gesang und sägende Gitarrenriffs, recht bald auch Beats, die mir – ganz persönlich subjektiv – etwas zu stoffelig sind. Ohne viel von dieser Musik zu verstehen, schätze ich, sie spricht Fans der Krupps der 90er an.

Lips Vago führt mit dem passend betitelten “Into The Uncertain” in eine ungewisse und gleichsam fast nostalgische Szenerie mit leichtfüßigen rhythmischen Noise-Loops und analogen Sounds, die an alte Computerspielmusik erinnern, wobei eine spielerische Leichtigkeit den Track durchzieht. Hinter dem Namen verbirgt sich Andrea Marutti, der seit den 90er-Jahren in der elektronischen Musik aktiv ist und hier seine Liebe zu Science-Fiction-B-Movies aus besseren Zeiten und archäologischen Mysterien durchscheinen lässt. Mit “A Cold Field” von Tristan Da Cunha wird es düster und metallen. Das mit Gitarre, Sampler und Laptop sowie Drums und Becken bewaffnete Duo kreiert eine vielschichtige Welt, die sich langsam entfaltet und schließlich zu einem satten, gleitenden Dröhnen avanciert. Diese atmosphärische Komposition erinnert an ein dunkles, wortloses Hörspiel und ist einer der Höhepunkte der Sammlung.

Ebenfalls beeindruckend und mitreißend ist der Producer Blak Saagan, dessen “Se Ci Fosse La Luce Sarebbe Bellissima” hier bereits vorgestellt wurde. Mit den rauen Synth-Loops und kraftvollen Midtempo-Beats seines “Black Out a New York” lässt er eine dystopische Welt entstehen, die an hypnotische Soundtracks der 80er erinnert, als Giallo-Filme und andere Thriller bereits in die Jahre gekommen sind und noch einige späte Perlen hervorbrachten. Die Turiner Andrea Marini und Gabriele Maggiorotto alias SabaSaba lässt mit “Night Plotters” spannende Orchestralsounds auf elektronische Rhythmen treffen. Was zunächst an eine aufwühlende Stummfilmszene erinnert, entwickelt sich zu einer atmosphärischen Komposition, in der rocktaugliche Midtempotakte und flirrende Klänge dominieren, und die immer mehr ihre räumliche Tiefe und ihr elektrifiziertes Antlitz offenbart. Auch beschleicht einen immer mal das Gefühl, verhuschtes Hecheln und Flüstern zu vernehmen.

Der amerikanische Wahl-Piemonteser Paul Beauchamp, der schon SabaSaba im Studio zur Hand ging, präsentiert mit Chaos Shrine ein eigenes neues Projekt und setzt uns mit “Incidental Dimensions” einer soghaften Intensität aus. Hohe, geisterhaft-trunkene Stimmen schweben im Raum, begleitet von flatternden und rauschenden Details. Subtiles perkussives Rattern schwingt im Hintergrund, ohne jedoch einen klaren Takt zu bilden. Streicher und anderes Saitenspiel lingt an, und irgendwann macht sich ein harmonisches Dröhnen breit und und füllt die verbleibenden leeren Räume aus. Und wie man weiß, eignen sich solche harmonischen Aspekte bestens für unheimliche und bedrohliche Szenarien. Den Abschluss bildet Martina Bertoni mit “Closer (Portal)”, einem Stück, das sich von einer kleinen, einfachen melodischen Zelle zu einer komplexen Bewegung aus Drones entwickelt. Ihr Cello-Einsatz strahlt Wehmut aus, während flirrende, elektrifizierte Hochtöner eine unterschwellige Dynamik beifügen. Der Track entfaltet seine Spannung nach und nach und findet sein Tempo in einem kraftvollen Synthie-Finale. Wir hatten die Komposition bereits bei ihrer digitalen Erstveröffentlichung vorgestellt und haben unserer Begeisterung wenig hinzuzufügen.

“Invisible Comma” ist eine beeindruckende Sammlung meist dunkler Soundart aus verschiedenen Musikszenen Italiens, die eine filmische Qualität und v.a. eine Tiefe offenbart, wie man sie selten in einer Sammlung findet, die zwangsläufig etwas heterogen bleiben muss. Ab dem 29. Oktober wird sie als CD auf besagtem Festival zu finden sein, ab dem 4. November ist sie auf dem YouTube-Kanal des Festivals verfügbar. (U.S.)

Vertrieb: Trieste Science+Fiction Festival