Eine Brücke zwischen uns und dem Universum: Ein Interview mit Noise Cluster

Seit Jahren erforscht das römische Duo Noise Cluster, bestehend aus Flavio Derbekannte und Arianna Degni Lombardo, die Grenzen elektronischer Musik. Ihre Werke sind geprägt von einer einzigartigen Mischung aus experimenteller Klangkunst, narrativen Konzepten und einer Neigung zu dunklen Themen, ihre stilistische Bandbreite reicht dabei von lärmenden Ansätzen über clubtaugliche, monumentale Elektronik bis hin zu psychedelischen Soundscapes, und eines der Leitmotive ist stets Flavios Trompete, die zwar nicht immer deutlich im Zentrum steht, aber nach wie vor den Bogen zu seinem Frühwerk schlägt, als er als Der Bekannte Post-Industrielle Trompeter von sich reden machte. Arianna, die früher als Xxeena aktiv war, drückt dem Projekt neben ihrer Beteiligung an den Produktionen auch durch ihre Stimme und durch ihre charakteristischen Illustrationen ihren Stempel auf. Mit dem neuen Tape “To the Moon and Back” (Grubenwehr Freiburg), einer Kollaboration mit Cristiano Bocci, nehmen sie die Zuhörer mit auf eine musikalische Raumfahrt, die sowohl astronomische als auch mythologische Dimensionen berührt. Im folgenden Gespräch erzählen Noise Cluster von der Entstehung und der bereits Jahre zählenden Vorgeschichte des Projekts, ihrer kreativen Herangehensweise und der Bedeutung, die mythologische Sujets, aber auch Aspekte der Dunkelheit und Entfremdung in ihrer Musik einnehmen.

Englische und Italienische Version

Ihr habt gerade ein neues Tape mit dem Titel „To The Moon and Back“ herausgebracht, eine Zusammenarbeit mit einem anderen Musiker. Wie kam es zu der Idee, mit Cristiano Bocci zusammenzuarbeiten? Kennt ihr euch schon lange oder seid ihr mit der Arbeit des anderen vertraut?

Bevor wir Deine sehr interessanten Fragen beantworten, möchten wir Euch und Euren Lesern für die Zeit und Aufmerksamkeit danken, die Ihr uns widmet! Wir fühlen uns wirklich geehrt!

Wir lernten Cristiano über die Hörergruppe eines DJs kennen, der eine langjährige und sehr wichtige Industrial-Musik-Show bei einem unabhängigen italienischen Radiosender moderiert. Mit der Zeit wuchs die Community und dieses Jahr schlug Cristiano vor, eine Compilation zu erstellen, um den Geburtstag von Giacomo, dem DJ, zu feiern und den Radiosender finanziell zu unterstützen. Viele Künstler beteiligten sich an der Compilation, sowohl solo als auch in spontanen Kollaborationen. Wir arbeiteten selbst mit Cristiano zusammen, und da wir mit dem gemeinsam erstellten Track sehr zufrieden waren, beschlossen wir, ein komplettes Album zu entwickeln. Unser Freund David Grodock aus Freiburg erklärte sich bereit, es zu produzieren.

Wie würdet Ihr die Zusammenarbeit mit Cristiano Bocci hinsichtlich des Sounds und der Atmosphäre des Albums bewerten? Welche neuen atmosphärischen Elemente hat er mit seinem Bassspiel eingebracht? Es ist sicherlich ein ungewöhnliches Element in Eurer Diskographie.

Wie Ihr wisst, haben wir bereits mit anderen Musikern zusammengearbeitet, die neue Gebiete erkunden und andere Instrumente verwenden als wir. Wir glauben fest an diese Art der Interaktion, die unserer Meinung nach beide Projekte bereichert.

In meiner Rezension erwähnte ich ein psychedelisches Element im Sound und Stil von „To the Moon and Back“, das auf subjektiven Assoziationen beruhen könnte. Könnt Ihr mit dieser Beschreibung des Albums etwas anfangen?

Wir denken, dass Dein Eindruck richtig ist, insbesondere was die gesungenen Stücke betrifft. Die Gesamtstimmung des Albums ist bewusst atmosphärisch und traumhaft und würdigt den romantischen Satelliten, der uns mit seinem alten und mysteriösen Reiz berauscht und inspiriert.

Wenn Euch neue Ideen für Tracks oder Alben einfallen, geht es dabei normalerweise um Sounds, Kompositionen oder thematische Inhalte? Oder variiert das?

Bei Alben gehen wir normalerweise von einem Konzept oder einer Geschichte aus – wie bei “Medusa”, “Mr. Mallory” oder “The Lost Dolls” und früheren Kollaborationen wie “The Fall of the Universe” mit Lyke Wake oder Stigmate (“The Nightmare”). Das gewählte Thema bestimmt die Entwicklung der Klänge. Wir folgen jedoch keinen festen Regeln; für einzelne Titel sammeln wir oft zuerst Klänge, verarbeiten sie und bauen dann das Stück.

Wie eure vorherigen Alben zeigt auch dieses ein thematisches Konzept – diesmal über eine Reise zum Mond, die sowohl als astronomisches als auch als mythologisches Phänomen verstanden werden kann. Was hat Euch an diesem Thema gereizt und wie ist die Idee für das Album entstanden?

Der Mond war schon immer ein geheimnisvolles und faszinierendes Element, vielleicht weil er so nah scheint, wir aber so wenig über ihn wissen. Er hat schon immer Neugier und Emotionen geweckt. Der Mond taucht in unzähligen Geschichten auf, von Tarotkarten bis hin zu Science-Fiction, alten Mythen, Poesie und der kollektiven Vorstellungskraft. Er ist ein Fragment unseres Planeten, das sich in den Weltraum gelöst hat und als Brücke zwischen uns und dem Universum dient. Wir haben beschlossen, ihm eine kleine Hommage zu widmen.

Die Reise an einen fernen Ort und zurück wird oft symbolisch als Initiation interpretiert, nach der man als veränderter Mensch in eine neue Phase der Existenz eintritt. Was könnte es bedeuten, zum Mond zu reisen und zurückzukehren?

Die heutige Technologie und der „Weltraumtrend“ haben zwar viel von dem Reiz verloren, der mit der Erforschung des Unbekannten verbunden ist, aber wir sind davon überzeugt, dass die Erfahrung einer Weltraumreise die Sensibilität eines Menschen tiefgreifend verändern kann. Es kommt alles darauf an, eine solche Erfahrung richtig zu interpretieren: die Welt von außen zu beobachten und sie dann sowohl innerlich als auch äußerlich zu verbessern.

Ich bin neugierig, woher Eure ungewöhnlichen Klangideen kommen, wie die aquatischen Klänge im pulsierenden Rahmen von „Chariot Across the Skies“. Sind diese Ideen vorsätzlich oder entstehen sie spontan beim Experimentieren?

Wie bei Albumkonzepten folgen wir auch bei Sounds keinem einheitlichen Prozess. Manchmal möchten wir die Möglichkeiten eines Synthesizers oder akustischen Instruments ausloten und sie auf den gerade entstehenden Track anwenden. Manchmal bestimmt das Stück selbst unsere Soundauswahl. Bei „Chariot…“, das die Mondphasen oder seine „Reise“ über den Himmel darstellt, als ob er von zehn göttlichen Pferden gezogen würde, ruft die Vorstellung eines stillen, magischen Flugs vielleicht das Eintauchen in einen himmlischen Ozean hervor.

Wie verläuft der kreative Prozess hinter einem Stück wie „Endymion und Selene“? Welche Schritte befolgt Ihr, um mythologische Figuren musikalisch darzustellen?

Ausgangspunkt ist immer die Geschichte, sei es unsere Schöpfung oder, wie in diesem Fall, die antike Mythologie. Endymion, möglicherweise ein Hirte oder ein Astronom, blickt in den Himmel, wo Selene, die Mondgöttin, wohnt. Ihre turbulente Beziehung inspirierte die Darstellung in diesem Track.

Auf Euren Alben finden sich oft intensive und abwechslungsreiche Klanglandschaften. Wie haltet Ihr in Euren Kompositionen die Balance zwischen einem stimmigen Klang und Komplexität?

Jede Geschichte hat unzählige Facetten, Charaktere und Situationen, die sich alle für unterschiedliche Stile und Details eignen. Vergleicht nur die dramatischen Balladen von Perseus und Medusa mit dem elektronischen Galopp von Pegasus im Gorgon-Album. Klänge und Stile – auch dissonante – können alle Aspekte desselben Konzepts sein.

Arianna, Deine Stimme bekommt in Stücken wie “Eterna Sfera Celeste” eine ausgesprochen theatralische Qualität. Welche Rolle spielt Deine Stimme heute beim Ausdruck von Musik? Hat sich Dein Verhältnis zur Stimme als Medium im Laufe der Zeit verändert?

Anfangs habe ich, Arianna, meine Stimme nur als Klang verwendet, den ich bearbeiten und verändern konnte. In letzter Zeit habe ich mich sowohl an das Schreiben von Songtexten gewagt, wie in Stücken wie “Crackling World” und “Eterna Sfera Celeste”, als auch an deren poetische Interpretation, wie in “Perseus, Not a Hero” von Flavio. Im Laufe der Jahre habe ich definitiv mehr Selbstvertrauen im Umgang mit meiner Stimme gewonnen, obwohl ich mich keineswegs als Sängerin bezeichnen würde (lacht).

Viele Eurer Werke haben eine bedrohliche und dunkle Qualität. Was zieht Euch an dieser dunklen Ästhetik an und wie übersetzt Ihr sie in Klang?  

Wir kommen beide aus einem von Natur aus nihilistischen Umfeld – düster und industriell –, wo alles trostlos, hoffnungslos und destruktiv ist. Wir haben jedoch immer versucht, der Negativität der Welt eine gewisse Ironie zu verleihen und sie auf eine Art und Weise hervorzuheben, um ihr entgegenzutreten, auch wenn sie am Ende leider immer die Oberhand gewinnt. Die Klänge und Worte, die wir in Musik umsetzen, sind einfach die „Materialisierung“ unserer Gemütszustände, die, insbesondere im historischen Kontext, in dem wir leben, sicherlich nicht leicht sein können.

Ich möchte über einige Eurer früheren Alben sprechen. Euer letztes Album „Medusa, Who Else?“ interpretiert die mythologische Figur der Medusa neu und behandelt dabei zeitgenössische Themen wie die Schuldzuweisung an das Opfer. Wie wichtig ist es Euch, in Eurer Musik gesellschaftlich relevante Themen anzusprechen?  

„Medusa, Who Else?“ ist sicherlich nicht das erste Konzeptalbum, das wir erstellt haben, aber frühere hatten einen groteskeren und etwas „autobiografischen“ Ton. Nehmen Sie zum Beispiel “The Outstanding Story of Mr. Mallory” und seine Fortsetzung “The Return of Mr. Mallory” sowie “Lympha Obscura”, die unter DBPIT & XXENA veröffentlicht wurden, oder unsere erste Veröffentlichung als Noise Cluster, “The Planet of the Lost Dolls”, die eine irdische Legende in eine Science-Fiction-Kulisse überträgt.
Es gab auch “IHSV” unter DBPIT & XXENA, ein dunkles, harsches Noise-Tape, das die kirchliche Zensur verurteilt. “Medusa, Who Else?” ist jedoch vielleicht unser erstes Werk, das sich vollständig einem aktuellen gesellschaftspolitischen Thema widmet.
Musik war schon immer ein wichtiges Mittel zur Verbreitung von Ideen, das über bloße Unterhaltung hinausgeht, und wir hatten das Gefühl, dass es an der Zeit war, den zu Unrecht Geopferten eine Stimme zu geben.

Glaubt Ihr, dass eine wesentliche Stärke von Mythen wie denen der Medusa darin liegt, dass sie sich symbolisch oder allegorisch auf unterschiedliche Themen und Situationen anwenden lassen?  

Absolut. Antike Mythen sind aus menschlichen Archetypen entstanden, wie etwa der Beziehung zwischen Mensch und Natur, der Angst vor dem Göttlichen und der Psychologie der Menschheit. In diesem Sinne sind es zeitlose Geschichten, die die Schwächen und Hoffnungen der Menschheit erforschen – Themen, die immer aktuell sind.

Das Album wurde in einem unkonventionellen Format mit einem Poster und einem Download-Code veröffentlicht. Welche Gedanken zum Materialismus und zur Fetischisierung physischer Objekte in der Musikwelt spiegeln sich in dieser Wahl wider?  

Vielen Dank für diese Frage. Leider hat nicht jeder unsere Absicht verstanden oder geschätzt, aber wir wollten ein klares Statement abgeben, indem wir die Musik in “Medusa” entmaterialisierten.
Musik existiert in der Luft, in unseren Ohren, in unseren Köpfen – sie hängt nicht von dem Medium ab, das sie wiedergibt. Wir haben das Gefühl, dass CDs veraltet sind. Neue Autoradios und Computer haben keine CD-Player mehr und CDs fehlt der rituelle Charme von Vinyl oder sogar Kassetten, den wir immer noch schätzen.
Indem wir uns entschieden, keine unnötigen Plastikscheiben mehr in Umlauf zu bringen, hofften wir, ein Zeichen des Umweltschutzes zu setzen. Da Arianna eine talentierte Illustratorin ist, haben wir den digitalen Download natürlich mit einer einzigartigen Grafik kombiniert, die an 12-Zoll-Beilagen erinnert, und dem Publikum so ein Sammler- und Ausstellungsstück geboten.
Unserer Ansicht nach ist dies die richtige Richtung.

In „Extreme Sleepwalking“ habt Ihr und der sardische Analogvirtuose Stigmate Themen wie Albträume und ein schlafwandelndes Leben (auch im übertragenen Sinn) untersucht. Was hat Euch zu diesem Thema hingezogen?

Anfangs waren wir von der Idee inspiriert, mythologische Monster aus östlichen Traditionen zu erforschen, aber am Ende wurden wir stattdessen mit unseren persönlichen Dämonen konfrontiert (lacht). Das Thema Albträume und eine fast zombifizierte Existenz hat uns tief berührt, insbesondere angesichts der Pandemie, als dieses Projekt geboren wurde.

Das Album ist während der Pandemie entstanden. Hatte die Krise direkten Einfluss auf die Stimmung bzw. die Gesamtthemen des Albums?  

Absolut. Diese wunderbare Zusammenarbeit wurde zutiefst von den Umständen der Pandemie geprägt. Wir waren alle im Grunde wie Zombies, in unseren Häusern eingesperrt, kämpften mit Ängsten und den Monstern unseres Unterbewusstseins, die im Schlaf auftauchten.
Unsere Psyche wurde auf die Probe gestellt (als ob wir heute alle gelassen wären, oder?), konfrontiert mit einem unsichtbaren Feind, dessen Natur und Gegenmaßnahmen ungewiss waren. Es war eine seltsame Zeit. Aus solch dramatischen Situationen entstehen jedoch manchmal die interessantesten Werke.

Flavio, dein Trompetenspiel – ein Markenzeichen deiner frühen Soloveröffentlichungen – spielt in der Musik von Noise Cluster immer noch eine Rolle, obwohl es mittlerweile mit anderen Elementen im Rampenlicht steht. Was sind deiner Meinung nach die größten Veränderungen in deinem Stil und deiner Herangehensweise als Musiker im Laufe der Jahre?

Tatsächlich habe ich als DBPIT angefangen, und obwohl ich in meinen 25 Jahren als Musikproduzent verschiedene Phasen durchgemacht habe, konnte ich die Trompete nie hinter mir lassen. Ob für kurze Riffs, als Kontrapunkt zum Gesang oder als ausgedehnter, erweiterter Hintergrund über energetischen Rhythmen, sie bleibt eines der beständigsten Elemente meines Sounds.
Was die Produktion betrifft, habe ich ihr immer viel Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet, sodass sich mein Ansatz nicht drastisch geändert hat. Mein Stil, meine Technik und mein Geschmack haben sich jedoch erheblich weiterentwickelt. Ich bin von eher spontanen, wilden Projekten zu einem ausgereifteren und ausgefeilteren Produktionsprozess übergegangen und habe meine Aufnahme- und Mischtechniken mit zunehmender Erfahrung kontinuierlich verbessert.

Ihr habt ja schon länger als DBPIT & XXENA zusammen Aufnahmen gemacht. Gab es einen bestimmten Grund, eurer Arbeit als Noise Cluster eine klarere Struktur zu geben?

Die Namensänderung sollte in erster Linie die Geburt eines gemeinsamen Projekts zwischen mir und Arianna markieren und nicht nur die Kombination unserer früheren Arbeiten. Außerdem scheint es für die Leute einfacher zu sein, sich den Namen zu merken (lacht).

Viele Eurer Alben erforschen konzeptionell das, was man als Heterotopien bezeichnen könnte – völlig unterschiedliche und weit entfernte Orte: die Weite des Weltalls, die Tiefen des Ozeans und mythologische Orte. Seht Ihr diesen Entdecker- und Erkundungsgeist als eine Art Markenzeichen von Noise Cluster?

Jeder Raum kann als Spiegel dessen gesehen werden, was draußen oder drinnen liegt – verborgen, gestört, widersprüchlich und verwirrend.
Wir erkennen uns selbst sicherlich in dieser Beschreibung wieder und danken Euch noch einmal für die Aufmerksamkeit, die Ihr uns geschenkt haben. Wir hoffen, dass dieser dunkle, mysteriöse Aspekt unserer Musik Eure Neugierde geweckt hat.

Interview: U.S.

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