Erst vor kurzem betonte die in Berlin lebende italienische Musikerin Munsha in einem Interview, dass sie in ihren künstlerischen Aussagen weitgehend offen bleiben und sich nicht allzu stark konzeptuellen Plänen unterordnen will. Das ist sicher gerade dann eine gute Haltung, wenn man sich wie in ihrem neuen Album “Mädchenorchester”, das als Score für ein 2021 uraufgeführtes Theaterstück komponiert wurde, weniger bekannten und im Schnitt schwierigen Themen annimmt, oder anders gesagt: Einem Stoff aus der Geschichte des Vernichtungslagers Auschwitz sollte man sich nicht plakativ mit dem didaktischen Holzhammer nähern.
Kurz zur Einführung: Munsha alias Daniela Lunelli ist eine klassisch ausgebildete Sängerin und Cellistin und landete nach ihrem Studium an Konservatorien im heimatlichen Salerno und in Mailand irgendwann in Berlin, wo sie mittlerweile eine äußerst betriebsame Mehrfachexistenz zwischen avantgardistischer Cello-Performance und elektronischer Musik, zwischen Gesangsunterricht und Arbeiten für Film und Theater führt. In den letzten Jahren gab es künstlerische Dialoge mit bekannten Namen wie Martina Bertoni, Bob Rutman oder Jochen Arbeit und mit zahlreichen Berliner Local Heroes wie Dr. Nexus oder Samin Son. Das jeweilige musikalische Resultat kann dann schon mal ganz unterschiedlich klingen, vielleicht ist es eine besondere emotionale Expressivität, die das verbindende Element birgt.
Auf dem vorliegenden Album überwiegt auf den ersten Eindruck der elektronische Sound, doch mit definitiven Aussagen sollte man auch darüber sparsam sein. “Mädchenorchester” erzählt – sowohl als Album als auch als Musikdrama – in Form sorgsam ausgewählter Bilder die Geschichte einer Gruppe von jüdischen und slawischen Zwangsarbeiterinnen, die in den Jahren 1943 und 1944 im Lager Auschwitz-Birkenau den Alltag mit heiterer Musik übertönen mussten und jeden Sonntag ein Konzert für das Wachpersonal zu spielen hatten.
Die Geschichte des Mädchenorchesters ist einerseits eine Geschichte wie die der meisten Gefangenen dieses oder jedes anderen Konzentrationslagers, eine Geschichte von Angst und fragiler Hoffnung, von Schmerz und innerer Abspaltung, die sich unter “normalen” Umständen nur schwer imaginieren lässt. Sie ist aber auch die Geschichte einer ganz eigenen Erfahrung von Kreativität, denn hier wird Kunst als Zwangsarbeit, als aufgezwungenen Missbrauch, als Dienst gegenüber den eigenen Unterdrückern und in einigen Fällen auch Mördern erfahren. Allein die Frage, ob Musik unter – und nach – diesen Umständen dennoch Trost geben und Leidenschaft bleiben kann, wäre Stoff für ein ganzes Buch.
Familienporträt from Munsha on Vimeo.
Zum Teil mit historischem Tonmaterial, in der Hauptsache aber mit eigenen Kompositionen für Orchester und Elektronik stellt Munshas Musik zahlreiche Fragen dazu in den Raum. Das Album beginnt leise rumorend, suchend, verschiedene Klänge strecken und bewegen sich, als bereiteten sie sich auf eine noch unbekannte Richtung vor, die es alsbald einzuschlagen gilt. Die stellt sich dann auch bald ein als sanft gleitender, ambienter Hauch, basierend auf Elektronik und etwas, das wie das Echo einer Stimme klingt – so wie das ganze Album vom Echo zahlreicher Stimmen bewohnt ist. Der Opener trägt den Titel “Eine neue Welt”. Das kann die Welt des Lagers, aber auch eine neue Welt in einer erhofften Zukunft sein, angesichts der für immer verlorenen Welt aus der Zeit vor der Gefangenschaft. Aber auch eine rein musikalische Heterotopie, die eine Art Reinheit gegen den Missbrauch zu bewahren sucht.
Weit entfernt von reißerischer Brutalität fokussiert die Musik oft eher anrührende Szenen und impliziert so einen Einblick in eine (neue) Welt voll mit wertvollen Erinnerungen und schwermütig eingefärbten Hoffnungen: Im intim anmutenden, an Arvo Pärt erinnernden Minimalismus des Stücks “Familienporträt”, das zwischen innerer Ruhe und ungeduldigem Warten zu changieren scheint; im schlichten, samplebasierten Interludium “Der Faden herum”, das den fotorealistischen Zoom auf eine alltägliche Handarbeit mit Nadel und Faden lenkt; im fast dublastigen Idyll des Frühlingssongs “Weit weg vom Gebell”; im krachfreien Kunstlied “Der Krach der 4 Musen”; und natürlich in “Wolkenfamilie”, dem berührenden Herzstück des Albums:
Ohne Brimborium wird in solchen Szenarien eine Idee der Erfahrung der Musikerinnen erlebbar gemacht. Das persönlich anmutende, mitunder anrührend schöne kontrastiert mit dem Wissen, dass die meisten Hörer über den Hintergrund haben, und vermag die Grausamkeit der Situation vielleicht vor diesem Kontrast besser durchscheinen zu lassen, als es eine schonungslose Präsentation könnte. Das wird beim letztgenannten Stück besonders deutlich, das vom Text her zunächst “nur” ein Song über Wolken ist. Dennoch gibt es auch Momente der Dramatik und Spannung: “Grüße aus Kanada” greift das Gefühl eines spannungsvollen Wartens aus “Familienporträt” auf und überführt es in eine aufgewühlte Ungeduld, in deren Hintergrund ein Monolog im Zeitraffer bellt, und irgendwann fällt auf, dass man sich im Zentrum eines rhythmischen Kraftaktes befindet. In “Der letzte Schnaps” läuft Musik von einer alten Platte vor einem koloritreichem Regenschauer, doch irgendetwas brodelt, macht seltsamen Lärm, als tobe ein Inferno unter einer trügerisch friedvollen Firmis.
Das Ende des Orchesters wird im gleichnamigen Track fast lakonisch ungeschminkt als rauer Endpunkt präsentiert, doch kommt das Orchester dabei auch noch mal in seier vielleicht unmittelbarsten Form zu Wort, lässt alle Instrumente schnarren und rumoren, ein letztes Aufbäumen vor einem bewusst ausgesparten Schluss. Wäre dies das Ende von “Mädchenorchester”, dann hätte jemand einfach den sprichwörtlichen Stecker gezogen, was sicher auch ein expressives Statement gewesen wäre. Munsha lässt die Geschichte aber noch in einem Abspann – “Heutiges Morgen” – in eine Welt voller Ambiguität entgleiten – rührend, fast tanzbar und opulent. Ein großartiges Album, dessen Fazit sich selbst nach vielen Hördurchgängen schreibt. (U.S.)