“The Blind City”, das neueste Werk des iranischen Komponisten, Kunst- und Musikwissenschaftlers Shahab Jafari, erzählt in vier eindrucksvollen Sätzen die Geschichte eines verschlafenen kleinen Dorfes, das von einer dunklen, zerstörerischen Macht heimgesucht wird, wenngleich die einzigen sprachlichen Erzähldetails in den knappen Liner Notes und in den Titeln zu finden sind. Mit den Mittels einer zeitgenössischen klassischen Musik, die an viele internationale Traditionsbestände anknüpft, gelingt es Jafari, ein cinmatisches Panorama zu entwerfen, das auf so poetische wie kraftvolle Weise die unterschiedlichsten emotionalen Nuancen entstehen lässt. Begleitet wird er dabei von herausragenden Musikern: Meysam Marvasti abwechselnd an verschiedenen Violinen, Viola und Cello und Behnam Abolghasem am Flügel. Gemeinsam erschaffen sie eine komplexe, emotionsgeladene Klangwelt, die sich auch durch deutliche Kontraste auszeichnet.
Der Eröffnungstrack “Hello Sun” führt uns in sanfte, melancholische Gefilde, in denen die Streicher ein liebliches, dabei immer leicht veränderliches Tempo anschlagen. Inmitten dieser sanften Wehmut taucht das Klavier auf, mal dezent im Hintergrund, dann wieder deutlich hervortretend, um in fast märchenhaften Momenten goldene Töne zu streuen. Diese spielerische Heiterkeit steht im Kontrast zum düsteren Goya’esken (oder Ensor’esken?) Albumcover aus dem Atelier des Komponisten selbst, das schon eine unheilvolle Atmosphäre suggeriert. Auch in der Musik freilich sind Momente dieser Art zwar dünn gestreut, aber für ein aufmerksames Sensorium dennoch immer wieder erkennbar. Es entsteht so eine filmische Szenerie, die zwischen sonnigem Licht und verhuschten Schatten, zwischen Hoffnung und subtil schwelendem Verlust pendelt.
“Demon’s Entry” wechselt den Ton schlagartig: Hochtönendes Sirren vibrierender Saiten erzeugt sofort Spannung, während das Klavier eine dem entgegengesetzte, beinahe unsichtbare Bewegung im Hintergrund aufbaut. Die tiefen Saiten der Streichinstrumente wirken erdend, doch zugleich lassen sie eine unterschwellige Bedrohung mitschwingen. Die Struktur des Stücks verändert sich mehrfach, nach einem dramatischen Bruch hinterlassen die tiefen Klaviertöne einen rauchigen Nachklang, bevor eine gelöstere, fast tänzerische Bewegung aufkommt. Für einen kurzen Moment erklingt eine fast polkaartige Fröhlichkeit, die jedoch bald von einer weiteren Wendung unterbrochen wird. Es fühlt sich an, als würde man einer gehetzten Flucht folgen, nur um kurz darauf in den Atempausen des Protagonisten zur Ruhe zu kommen. Oder als beobachte man ein ambivalentes Bewusstsein, dass sich eine ernste Bedrohung, nach mehrmaligen Versuchen des Verdrängens, sukzessive eingesteht. “Altar” bringt eine drängende Dynamik ins Spiel, die sich wie ein pochendes Fortkommen über unwegsames Gelände anfühlt. Doch immer wieder gibt es unerwartete Brüche: Vibrato-Passagen erinnern an die Musik früher Stummfilme, und man könnte sich die geschilderte Geschichte ohne Weiteres in einem dunklen Filmtheater mit den typischen Klappergeräuschen der abgespulten Filmrollen vorstellen. Hier zeigt sich Jafaris Sensibilität, die seine Kompositionen zu narrativen Ereignissen macht, bei denen jedes Instrument zum Erzähler wird.
Der titelgebende Abschlusstrack “The Blind City” beginnt in entrückter Zurückgenommenheit. Zarte Pianoklänge wirken, als entstammten sie einem mystischen Reich, das an die esoterischen Reisen Gurdjieffs erinnert. Die hohen, aufsteigenden Saitenstriche lassen den Hörer in sphärische Weiten eintauchen, in denen sich die Grenzen zwischen Realität und Traum verwischen. Es entsteht eine Art metaphysische Stadtlandschaft, die in ihrer Ruhe und Tiefe etwas Beunruhigendes, aber auch Erhabenes offenbart.
Shahab Jafaris “The Blind City” ist ein Album, das beim oberflächlichen Hören v.a. zugänglich wirkt, dagegen durchaus seine ganz eigenen Herausforderungen offenbart, wenn man sich etwas stärker auf die Musik einlässt. Es verbindet meisterhaft emotionale Tiefe mit einer fein abgestimmten Klangarchitektur und bietet eine musikalische Reise, die den Zuhörer – nicht zuletzt auch durch die hervorragenden Interpretationen der Instrumentalisten – auf subtile Weise immer tiefer in die erzählte Geschichte zieht. (U.S.)
Label: Noise a Noise