Betrachtet man den experimentierfreudigeren Teil gegenwärtiger Popkultur, so stellt das personell sehr wechselhafte Ensemble CURRENT 93 eine der wichtigsten grauen Eminenzen dar. Ob man nun von ANTONY AND THE JOHNSONS ausgeht, von Countrykauz WILL OLDHAM oder von den gerade wieder angesagten Drone-Spezialisten SUNN O))) – auf der Suche nach Hintergründen und Querbezügen landet man früher oder später bei dem mittlerweile transatlantischen „Folk and more“-Kollektiv um Sänger, Maler und Mad Poet DAVID TIBET. Vor rund drei Jahren, auf dem Höhepunkt einer neuen Folkwelle also, feierte die Band, deren Themen seit jeher um persönliche Vorstellungen religiöser Eschatologie kreisen, ihren bisher größten Publikumserfolg – auf dem Album „Black Ships Ate The Sky“ besang man gleichsam ängstlich wie sehnsuchtsvoll die farbenprächtige Apokalypse im Cartoon-Style und begeisterte im Handumdrehen altgediente Fans aus der Riege der Neofolker und Gothics sowie ein nicht gerade kleines Publikum an Neueinsteigern. Der schlichten Schönheit der überwiegend akustischen Kompositionen mag dies ebenso zu danken sein wie der Mitarbeit prominenter GastsängerInnen wie MARC ALMOND, ANTONY HEGARTY und SHIRLEY COLLINS.
Kritik gab es freilich auch – gar nicht so sehr von „offizieller“, journalistischer Seite, denn die Presse inner- und außerhalb des gegenkulturellen Bereichs war ausgesprochen wohlwollend. Vielmehr im Gespräch mit Freunden oder in Forendikussionen machten sich auch schon mal kritische Positionen bemerkbar: Dass „Black Ships“ etwas zerrissen geraten sei durch die vielen Gastsänger, die mit ihren „Idumaea“-Versionen zwar konzeptuell in den Zusammenhang des Albums passen, musikalisch jedoch immer wieder eine Unterbrechung darstellen und so dem für Konzeptalben so wichtigen Eindruck von Geschlossenheit eher entgegen wirken, wurde gelegentlich moniert. Auch, dass das Album dadurch ein wenig lang geraten sei, etwas unter seiner symbolischen Schwere zu leiden habe und – was vielleicht am meisten ins Gewicht fällt – an den Stellen, die 100% CURRENT 93 sind, mit seinem Akustikgitarren- und Streichersound doch nur eine wohlgeratene Revitalisierung des bereits von früher her Bekannten zu bieten habe. So sehr ich auch den Kern all dieser Kritikpunkte nachvollziehen kann, hatte ich doch schnell das Gefühl, dass sich in „Black Ships“ alle wichtigen Kernelemente von Tibets Kunst auf sehr gelungene Weise verbinden: Ein Klangbild zwischen filigraner Folklore und dezent dröhnender Psychedelik; Texte, die von einer obsessiven aber nie aufdringlichen religiösen Leidenschaft zeugen, ausgedrückt in surreal anmutenden Bildern; ein konsequenter, souveräner und doch stets freundlicher Außenseitergestus, der szeneübergreifend ist und sein will. Und letztlich auch wieder so etwas wie ein Familiending, das sich bei Davids Kontakten alle Jahre wieder neu herausbildet und über die direkten Beteiligungen an Aufnahmen einen stets im Wandel befindlichen Rahmen an Referenzkünstlern mit sich bringt, die ihn auf seinem Label, bei Konzerten und auf Samplern begleiten. In den Jahren um 2006 hieß diese kleine Szene u.a. FOVEA HEX, SIMON FINN, OM, LITTLE ANNIE – Kontakte, die dem „neueren“ Tibet sehr gut zu Gesicht standen, weswegen ich auch ein wenig bedaure, dass sich die Verbindungen bereits wieder gelockert haben, um Platz für neue Konstellationen zu schaffen.
Das Nachfolgewerk „Aleph At Halluciantory Mountain“ wurde bereits lange angekündigt – eine Vorbestellaktion, eine EP namens „Birth Canal Blues“, die schon länger bekannte neue Bandbesetzung und eine (natürlich) 93 Sekunden lange Online-Hörprobe machten gespannt: Wird sich die Band, die einst den Begriff des Apokalyptic Folk prägte, nun völlig vom Akustiksound verabschieden und komplett auf Rock umsatteln? Schon die letztjährigen Live-Darbietungen tendierten in eine solche Richtung. Welche Rolle werden diesmal Gastmusiker spielen, zu denen nun RICKIE LEE JONES, OSSIAN BROWN von CYCLOBE und Pornostar SASHA GREY zählen? Seit jeher prägen langfristige und vorübergehende Weggefährten des rastlosen wie leutseligen Tibet auch den Sound der Band, weshalb die schreibende Zunft ihrer Lust am nerdigen Namedropping unbeschwert frönen kann. In der Tat stellt „Aleph“ einen dritten großen Bruch in der Bandgeschichte dar, welcher Image und Fangemeinde der Gruppe ebenso umkrempeln könnte wie die erstmalige Hinwendung zu Songstrukturen Ende der 80er oder die minimalistischen Piano- und Lyrik-Exkursionen auf dem beliebten 98er Album „Soft Black Stars“. Zum Ende eines jeden Jahrzehnts also scheint sich Tibet ein musikalisches Wagnis vorzunehmen, und so ist diesmal ein gleichermaßen improvisiert wie ausgereift klingendes Rock-Opus daraus geworden, das gleich mehrere Qualitäten des 70er-Jahre-Rocks mit Trends unserer Zeit zu kombinieren weiß. „Aleph“ wartet mit schweren Stoner-Gitarren auf, mit gelegentlichen Hard’n Heavy-Riffs in alter BLACK SABBATH- und DEEP PURPLE-Manier und mit einer für CURRENT-Verhältnisse recht komplexen Songstruktur, die zusammen mit der Drumarbeit ALEX NEILSONs ebenso nah an Doom Metal wie an „krautigen“ Psych Rock á la ACID MOTHERS TEMPLE herankommt. Schon nach der ersten Minute des Openers “Invocation of Almost” findet sich der Hörer in einem von ausladendem Schlagzeuggewitter aufgepeitschten Meer aus psychedelischen Gitarren und kongenialen Elektroniksounds. Lediglich angereichert wird das Ganze dann mit einigen verspielt folkigen Passagen, bei denen der Brite JAMES BLACKSHAW, ein Neuling in CURRENT-Kosmos, seine Künste auf der zwölfsaitigen Gitarre beisteuert – sehr schön passt dies zur ergriffenen Stimme Tibets auf dem elegischen „UrShadow“, das vielleicht am ehesten noch an zurückliegende Arbeiten anknüpft. Insgesamt findet sich auf der Platte aber auffallend wenig Folk – „Black Ships“ mit dem stimmungsvollen Finger Picking von MICHAEL CASHMORE und BEN CHASNY lässt sich kaum sinnvoll wiederholen, und überhaupt war Tibet nie jemand, der irgendwelchen Trends hinterher rennt. So erscheint sein Bruch mit dem Folksound nach dem Abflauen von New Weird America und Co. beinahe konsequent und wirkt wie vieles bei ihm konstruiert und authentisch zugleich.
Doch wenn Tibet sich neu erfindet, geschieht dies selten ohne Vorarbeit, und ebenso wie die später so offenkundig kindliche Bildwelt und die introspektive Selbstanalyse schon in seinen frühesten Arbeiten latent vorhanden waren, ist auch der Rocksound nichts, worauf man nicht hätte vorbreitet sein können: Die Kollaborationen mit den japanischen MAGICK LANTERN CYCLE, mit Nick Saloman von THE BEAVIS FROND und zuletzt mit OM eignen sich dabei als Referenzpunkte. Dennoch sind es am ehesten noch die von Tibet fast allein bestrittenen Vokalparts, die Vertrautheitsgefühle wecken, und die am besten dann zum spontan entfesselten Instrumentenspiel passen, wenn der Frontmann wie ein hysterischer Kobold zu zetern beginnt. Mehr denn je ist seine Stimme aber gerade dann ein Kontrapunkt zur Musik, wenn sie im gesetzten Vortragsstil zum Einsatz kommt. Dabei kommen facettenreiche Kompositionen zustande: Beim Song mit dem mysteriösen Titel „26 April 2007“ leiten langgezogene Klangflächen Tibets Sprechgesang ein, während dahinter unermüdlich Bass, Gitarre und Schlagzeug rumoren – bis dass lautes Gitarrenfeedback irgendwann den Vortrag ablöst und alles mit der gehauchten Stimme ANDRIA DEGENS’ in „Aleph is the Butterfly Net“ übergeht. An diesen Übergängen zwischen den Liedern, an den Auftakten und Schlussakkorden der einzelnen Songs, finden sich noch am ehesten Brücken zu den introvertierteren CURRENT NINETY THREE der Jahre um 2000, und man wird den intuitiven Eindruck nicht los, dass diese Zeit des gediegenen Minimalismus, der Selbsthinterfragung und der Zurückgezogenheit (kaum Interviews, überschaubares Lineup, Absagen an Szenezugehörigkeiten aller Art) irgendwie wichtig war, um die (reifere?) Band in alter religiöser Kompromisslosigkeit und ungewohnter Härte wieder auferstehen zu lassen. Einige Zeichen deuteten schon länger in diese Richtung, so z. B. die Wiederveröffentlichung und Neubearbeitung des zwischenzeitlich beinahe verworfenen Frühwerks in all seiner rauen Monstrosität oder die inhaltliche Seite von „Black Ships“. Und der musikalisch härtere Kurs wird weiter verfolgt werden, noch für dieses Jahr wird Tibet Alben von SKITLIV und SIGH mit Gastbeiträgen beehren. Beide Bands schlagen die Brücke zur Black Metal-Legende MAYHEM.
Man kann sich darüber streiten, wie viel Rockattitüde in der Musik und im neuen Auftreten der Band steckt. Auf einigen von Tibets neueren Fotos ist sie mitunter offensichtlich, wenn auch mit einem leicht selbstironischen Unterton, wie mir scheint. Sicher wird der Ausflug in den Rock nicht von jedem goutiert werden. Einige, die vielleicht mantraartigen Stonermetal im Stil von OM erwartet hatten, könnten sich durch die vielen Brüche, durch die Verspieltheit und Unübersichtlichkeit des Ganzen gestört fühlen: „Aleph“ ist eine Platte, die sich kaum beim ersten Hördurchgang erschließen wird und deren Klanglandschaft ohne Eile kartografiert werden will. Doch auch wer die musikalische Wandlung prinzipiell begrüßt, könnte mit dem einen oder anderen Detail unzufrieden sein. Die starke Tendenz zum rezitativen Sprechgesang, der auch bei den energischeren Passagen nur in Ansätzen melodisch ist, reduziert die Dynamik einiger Songs. Kompensiert wird dies aber durch Stellen, bei denen Tibet hemmungslos schreit und der Rock sein größtes Pathos entfaltet. Gerade die längeren Stücke „On Docetic Mountain“ und „Not Because the Fox Barks“ sorgen dadurch für die stärksten Momente des Albums und nehmen mich ohne Mühe für den Kurswechsel ein.
Ist „Aleph“ eigentlich die bislang amerikanischste CURRENT 93-Platte? Americana-Stars wie Matt Sweeney (SUPERWOLF, Neil Diamond) und würdige Newcomer wie Keith Wood (HUSH ARBORS) sorgen mit ihren Gitarren für einen Sound, der zumindest bei mir entsprechende Assoziationen hervorruft. Ich betone das, weil ich mich an ein etwas ironisches Rollerderby-Interview aus den 90ern erinnere, in dem Tibet noch betonte, an Amerika interessierten ihn bestenfalls die Kakteen in der Wüste. Aber etwa zur gleichen Zeit sagte er auch mal, er möge kaum Rock, und eine Textphrase wie „Singing the Blues“ wäre ihm damals wohl auch nur schwerlich über die Lippen gekommen. Die Entwicklung von Davids Interessen, Leidenschaften und Geschmackstendenzen ist mitunter sprunghaft – neben seinem Bezug zum Frühwerk ist auch seine ambivalente, wechselhafte Haltung zu einem gewissen Edward Alexander jedem Fan ein Begriff. Im Grunde lenken solche Dinge aber nur minimal davon ab, dass Tibet sich in seinen wesentlichen Motiven stets treu geblieben ist. Ganz offenkundig treu bleibt er sich hier v. a. im Songwriting: „Aleph“ ist in religiöser Hinsicht so spannend wie sein Vorgänger, denn auch hier wird ein enormer metaphysischer Überbau mit tibet’schen Erlebniswelten zu einem beeindruckenden privatmythologischen Amalgam verschmolzen, welches zu analysieren, je nach hermeneutischem Anspruch, ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen wäre. Wenn von der „anointing tyranny of stars“, den „nail veils on the Kaaba“ und der „perpetual Virgin of Evidence“ die Rede ist, wenn ein „terminal Eden“ erträumt und „Gods in plastic boxes“ vergegenwärtigt werden, dann sollte man nicht allzu verbissen nach einer griffigen Botschaft suchen, die der Verfasser, wie immer primär im Dialog mit sich selbst, wohl auch kaum verkünden will.
Für den mit der Zeit akklimatisierten Hörer kristallisiert sich aber schnell ein Grundtenor heraus, der synkretistische Schöpfungsmythologeme jüdisch-christlicher und altorientalischer Prägung zum Thema hat. Schöpfungsmythen allerdings, die ein großes Augenmerk auf den Kern des Zerstörerischen legen. „In the Beginning was also the end“ heißt es in dem COIL-Klassiker „The Dreamer is still Asleep“, den Tibet zusammen mit dem Pianisten OTHON MATARAGAS erst kürzlich neu interpretiert hat. Hier setzt Songwriter Tibet erst später ein, nämlich „Almost in the beginning“, wo der Mörder wartet: „Cain is here”! Wie auf einigen CURRENT 93-Alben fehlt hier auch das sprachreflexive Moment nicht, welches auf die Zersplitterung von Zusammenhängen ebenso verweist wie auf deren versöhnende Verschmelzung: „In my mind fractal texts/Broken grammars/Droning like honey/Sweeter than Ziggurat”. Tibets derzeitiges Studium der koptischen Sprache und Religion ist sicher auch dafür eine neue Inspirationsquelle. Ein sprachliches Motiv findet sich zudem in der mehrfach betonten Identifikation des lyrischen Ichs mit dem titelgebenden Aleph, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, der als Initial des Wortes für „Mensch“ auch für Adam steht. Interessant ist in textlicher Hinsicht auch wieder der Verweis auf Passagen des eigenen Werks – so ist neben den Wiedersehensfreude weckenden „Fields of Rape“ ein großer Teil des Textes der „Birth Canal Blues“-EP enthalten, selbstverständlich neu arrangiert und mit dem als Einheit zu betrachtenden Gesamttext verwoben.
In einem Aspekt unterscheidet sich „Aleph“ sehr von „Black Ships“, nämlich im Stellenwert der mitwirkenden Gäste. Wirkte der Vorgänger mit seinen zahlreichen Stimmbeiträgen beinahe samplerartig, so zentriert sich hier alles auf Tibet, die schon erwähnten drei Gitarren, Bassist ANDREW WK und den überaus talentierten Drummer. BABY DEEs Piano, BILL BREEZE’ Viola und JOHN CONTRERAS’ Cello dagegen kommen derart minimal zum Einsatz, dass beinahe der Eindruck entstehen könnte, Tibet wolle aus freundschaftlicher Dankbarkeit noch ein paar Leute aus früheren Sessions mit an Bord haben. Wie man von unseren Berichterstattern vom WGT erfährt, muss die Piano- und Streicherfraktion bei den aktuellen Livedarbietungen viel stärker und prägender in das Klangbild integriert sein. Auch kann man sich fragen, wie viel die Gestalt des letzten Stückes der Tatsache verdankt, dass die weiblichen Spoken Words nun ausgerechnet von Jones und Grey eingesprochen wurden. Dort kommt aber zumindest Tibets langjähriger Wegbegleiter STEPHEN STAPLETON etwas signifikanter zum Zug, der den Dialog der Amerikanerinnen mit einer zirkusartigen Orgelmelodie unterlegt. Zusammen mit Bandkollege ANDREW LILES besorgt er – traditionsgemäß – auch die Produktion des Ganzen.
„Aleph“ ist sicher ein untypisches Werk und gewiss nicht die repräsentative Platte, um Neueinsteigern die Band CURRENT 93 näher zu bringen. Was die Erfolgsprognose angeht, kann ich mich den Ausführungen aus der vorangegangenen Besprechung anschließen und vermute, dass die Reaktion in der Mainstreampresse verhaltener sein wird als zu „Black Ships“-Zeiten. „Aleph“ wird einige angenehm überraschen, weitere vielleicht auch enttäuschen und bestimmt auch manche versöhnen, die den vor rund zehn Jahren eingeschlagenen Weg des „ruhigeren“, intimeren David Tibet nie ganz akzeptieren konnten. Vor allem aber ist sie das beeindruckende Zeugnis der Häutung eines Künstlers, der nichts weniger will als sich selbst langweilig werden, und doch immer am gleichen Projekt kontinuierlich weiter arbeitet. Mich hat „Aleph“, trotz der angesprochenen Schwachstellen, sehr überzeugt. Man darf gespannt bleiben, wohin der 93er Strom in den nächsten Jahren fließen wird.
(U.S.)