Das Wort „Varieté“ leitet sich ursprünglich von „Vielfalt“ ab. Zurecht, denn man bezeichnet damit eine Art Theater, in welchem die unterschiedlichsten Kleinkünste auf die Bühne gebracht werden. Kabarettistische Aufführungen, Gesangseinlagen, Tanz und allerlei Bizarres. Es gäbe wohl kaum ein passenderes Wort, um Marc Almonds derzeitigen Stand seiner Karriere zu überschreiben, bedenkt man wie umtriebig und vielseitig der Sänger seit seinem Comeback wieder in musikalischen Gefilden unterwegs ist.
Almonds Comeback begann zunächst recht verhalten, als 2005 nach einer mehrjährigen unfall- und therapiebedingten Pause ein fast reines Coveralbum namens „Stardom Road“ erschien. Sicher nicht sein allerstärkstes Album, enthielt es doch einige gelungene Neuinterpretationen von David Bowie-, Al Stewand- und anderen Klassikern, begleitet von dem Vorsatz, künftig keine eigenen Songs mehr zu schreiben. In der Zwischenzeit erschien nicht nur ein weiteres Coveralbum („Orpheus in Exile“), Marc arbeitet seit einiger Zeit mit Michael Cashmore an der Vertonung lyrischer Texte, sang unter anderem auf einem famosen Album von Othon Mataragas und tourte ausgiebig. Als einen bisherigen Höhepunkt alldessen betrachte ich den Live-Mitschnitt „In Bluegate Fields“, der einige großartige Songs enthält, die man bisher nirgendwo sonst zu hören bekam. Zur offiziellen Krönung gab es jüngst den Mojo-Award. Marcs neuestes Album „Varieté“ wurde unlängst mit einer ganze Reihe an Musikern eingespielt, deren bekanntester wohl Neil X (früher SIGUE SIGUE SPUTNIK) ist, der geheimnisvollste vielleicht der in New York lebende Thereminist Armen Ra. Pünktlich zu Almonds dreißigstem Karrierejahr erschienen, soll es nun sein Schwanengesang, sein großes finales Werk sein.
In der Welt der Kleinkunst, der Chansons und einfachen Folksongs fühlte Marc sich schon immer zu Hause. Das erste SOFT CELL-Album trug bereits den Begriff „Cabaret“ im Titel, bei MARC AND THE MAMBAS zeichneten sich solche Stilememente im Kleinen ab. Auf dem Album „Mother Fist“ wurden sie erstmals Programm, und spätestens seit den zahlreichen Neuinterpretationen französischer und russischer Lieder wäre eine auschließliche Klassifizierung Almonds als Synthipopstar der 80er eher einseitig. Was den Sänger seit jeher mit der Kleinkunst des Varietés verbindet, ist sein Interesse nicht nur am Abseitigen, sondern speziell am Schicksal der Ausgestoßenen, „Perversen“ und Underdogs. Ein berührendes Denkmal setzt er diesen in dem Torch Song „The Exhibitionist“, der für mich das Herzstück des Albums bildet. Wie exemplarisch besingt er mit seiner längst zum Markenzeichen gewordenen Schmachtstimme die Mitglieder einer klassischen Freakshow, fordert sie auf, ohne Scheu zu ihren sexuellen Uneindeutigkeiten und kuriosen Körpermerkmalen zu stehen. Wie um Teile seines Werks zusammen zu fassen, bringt er die Sympathie für’s Unpopuläre auf eine Formel, die man derart sloganhaft bei ihm nicht kennt: „Ordinary is bad, strange is good“. Diese Direktheit passt gut zum Fehlen gängiger Brechungen in Almonds Werk, was vielleicht mit ein Grund sein könnte, dass sein ansonsten umjubeltes Comeback bei den ins „Queere“ regelrecht vernarrten Fashion Victims der Indie-Elite weniger fruchtete – ganz im Unterschied zur Popularität seines Freundes Antony Hegarty oder zur schmalzhemmenden Monotonie eines Rufus Wainwright. Almonds Herangehensweise umschreibt nicht, sie zielt ohne Umschweife ins Emotionale, und ist sich dabei nicht zu fein, auch mal kitschig und pathetisch zu klingen.
Zusammen mit „Sandboy“ und anderen Stücken repräsentiert „The Exhibitionist“ die getragene, melancholische, leicht traumwandlerische Seite des Almondschen Varietés. Doch Marc wäre nicht der talentierte Crooner, hätte er nicht auch Kurzweil im Programm. „Bread and Circus“, ein energiegeladener Ohrwurm vom Format eines „Jacky“ oder „Brave Boy“, läd zum Klatschen und Mitsingen ein und ist eine furiose Feier der Schönheit und Vitalität. „No time for moping around“ heißt es hier, und was braucht man mehr zum Glück als etwas Dolce Vita und Kunstgenuss. Nicht erst die Assoziation zum „Brot und Spiele“-Programm der alten Römer, mit dem über Missstände hinweggetäuscht werden sollte, lässt die Erfahrung einer mitunter absurd und sinnarm erfahrenen Wirklichkeit durchscheinen. Eher eine Feier des schönen Scheins also? Eine Frage, die bereitwillig offen gelassen wird, und den Song vor allzu naivem Optimismus bewahrt. „Hard times prepare for hard times“ singt Marc jedenfalls, ganz in seiner Rolle als Sisyphos aufgehend, der glücklich seinen Stein rollt.
Die meisten Songs bewegen sich irgendwo im Bereich zwischen solchen melodramatischen Chansons und burlesken Schlagern im Geiste des Vaudeville. Alle haben sie einen ganz eigenen Charme und Charakter, und man könnte viel zu ihnen sagen. Zum autobiografisch anmutenden „Trials of Eyeliner“, das die Stationen eines ausschweifenden und gleichsam lichtscheuen Lebens Revue passieren lässt. Zum zwischen Walzer und Rockballade angesiedelten „Cabaret Clown“, das die Klischees vom einsamen gealterten Spaßmacher vielleicht etwas arg beansprucht und trotzdem ein wunderbarer Song ist, der vom Schicksal des Vergessenwerdens berichtet, von welchem Marc selbst zum Glück verschont blieb. Zum klassischen Discohit „Soho So Long“, den es bereits als schmissge Akustikversion bei Konzerten gab. Zum doppelbödigen 50s-Bubblegum von „It’s all going on“. Alle verbindet sie eine lebensfrohe Stimmung, die gerade aufgrund der mal mehr, mal weniger deutlich durchschimmernden Melancholie so unaufgesetzt wirkt. Zusammen machen sie „Varieté“ zu einem runden und zugleich vielseitigen Werk, das ich beim besten Willen nicht als Alterswerk verstehen will.
Bleibt die Frage nach dem Schwanengesang – wie pessimistisch sollte man da sein? Erfreulicherweise zeigt gerade „Varieté“, dass bei Almonds Vorsätzen das letzte Wort nicht gleich gesprochen ist, denn immerhin konnte er hier der Versuchung, wieder eigene Songs zu schreiben, nicht wiederstehen. Im Rahmen seiner Gedichtvertonungen mit Michael Cashmore (der auch hier einige Songs komponiert hat), ist für die Zukunft bereits ein Album namens „Feasting with Panthers“ geplant, und das sollte mehr als ein Licht am Ende des Tunnels sein. P.S.: In Kürze erscheint noch eine Liebhaberedition von “Varieté”, die eine Bonus-CD mit weiteren unveröffentlicheten Stücken enthalten wird. (U.S.)