ORCHESTRA NOIR: What If…

“Was wäre wenn..?” – eine Frage, die wohl jedes Gemüt ab und an in tagträumerischer Laune in eine Welt glücklicherer Wendungen und besserer Entscheidungen abdriften lässt. Die das Hadern mit dem Hier und Jetzt verstärkt, und doch die Möglichkeit eines besseren Lebens bewusst macht. Selbstverständlich kann man dieses Gedankenspiel auch umdrehen, und sich fragen, wie es wohl wäre, wenn alles noch schlechter kommen würde, oder am Ende sogar ganz ohne den Konjunktiv: Ob nicht sowieso alles viel trostloser ist, als es scheint. Wenn unsere Eltern uns mit einer Lüge groß gezogen haben, wenn wir der Willkür einer unberechenbaren Macht ausgeliefert sind, mag sie nun politisch, wirtschaftlich oder metaphysisch sein. Wenn unsere Hoffnungen einem zu Scherben gehauenen Spielzeug gleichen.

Tony Wakeford, allseits bekannt als Kopf der Folkband SOL INVICTUS, ist jemand, der seinen Zweifeln seit jeher in Form solcher Gedankenspiele Ausdruck verleiht. Der in den schwärzesten Momenten Figuren entwirft, die die Isolation des eigenen Nirwana einer furchterregenden Welt vorziehen. Der die Kehrseite des englischen Gartenidylls sichtbar macht und metaphysische Erklärungen des Daseins zwar als wichtig betrachtet, sich dabei aber auch zur Logik des Zweifels bekennt. “England is funny, but sometimes she scares me” hieß es auf seinem vorletzten Soloalbum, “in God we trust, but not too much” etwas früher bei Sol. Dem Leitmotiv des Zweifels und der ambivalenten Haltung gegenüber seiner englischen Herkunft widmet er nun auch wieder sein neuestes Werk, und welches Projekt könnte sich dazu besser eigenen, als dasjenige, welches schon die Schwärze im Namen trägt – ORCHESTRA NOIR. Für Einsteiger sei das schwarze Orchester kurz vorgestellt: Anfangs noch komplett auf französisch als “L’Orchestre Noir” aus der Taufe gehoben ist die Gruppe Wakefords Vehikel für seine Interessen jenseits von Post-Punk und Folk, für seine Exkurse in die Welt orchestraler Kammermusik. Seit Mitte der 90er belebt er das personell sehr wechselhafte Ensemble nun in unregelmäßigen Abständen neu, bringt Konzeptalben zu so unterschiedlichen Themen heraus wie dem Sherlock Holmes-Darsteller Jeremy Brett oder dem Andenken der Opfer des Ersten Weltkriegs. Umspannen die Aufnahmen auch eine Stimmungspalette von elegisch bis dramatisch – gemein ist allen die beabsichtigte Nähe zu klassischer orchestraler Filmmusik.

Das aktuelle Album des Orchestra Noir ruft assoziativ ein England in Erinnerung, das gerade zwischen viktorianischem Fin de Siècle und moderner Euphorie verharrt, zwischen regressiver Abwehr und nervöser Erwartung des gerade begonnenen 20. Jahrhunderts. Gemeint ist die Zeit unter König Edward VII, die zwar nur in kleinen textlichen Anspielungen (“What if God doesn’t safe the king”) vorkommt, auf die Tony aber bereits in einem vor kurzem erschienenen Interview verweist. Was man sich unter einer solchen Assoziation vorstellen kann, würde ich am Liebsten mit der Metapher „angestaubt“ umschreiben, wäre diese im allgemeinen Sprachgebrauch nicht viel zu sehr zu einem Bild für etwas Muffiges und Miefiges verkommen, für etwas im schlechtesten Sinne ewig Gestriges – überkommen, langweilig und zurecht vergessen. Und obwohl die Musik des Orchestra Noir nichts davon ist, passt die Vorstellung einer mehr als feinen Staubschicht doch sehr gut zu der Stimmung schattiger Londoner Hintergassen, vergessener Herrenhäuser und nächtlicher Landschaften, die Tonys Ensemble in Wort und Klang zum Leben erweckt: Das sprichwörtliche Haus auf dem Hügel, mysteriös anzusehen aus der Ferne, ein beeindruckendes Panorama auf eine verzerrte Welt bietend, wenn man seine Höhe erst mal erklommen hat. Merkwürdige Kinder, die des Nachts auf einer verlassenen Wiese spielen und Vogelscheuchen ähneln. Das legendäre Londoner Irrenhaus Bedlam, Sinnbild einer bornierten Haltung gegenüber allem Fremdartigen, und wie in makabrer Ironie nach dem Geburtsort des christlichen Erlösers benannt. Und trotz all dieser klassischen Themen hat man das Gefühl, etwas „Zeitgemäßes“ zu hören, nicht zuletzt durch den Song „Spitfire“, der den Bogen zu aktueller britischer Kriegspolitik spannt.

Ich bin kein Kenner der klassischen Musik, stand der Verwendung solcher Zitate in Subkulturen meist skeptisch gegenüber und halte einen Begriff wie Neoklassik nach wie vor eher für den Ausdruck eines eitlen Wunschtraumes, ein U für ein E zu verkaufen. Keine gute Voraussetzung, mich ausführlich kritisch zum Zusammenspiel von Piano, Streichern, Oboe und anderen Blasinstrumenten zu äußern. Das Bauchgefühl des Laien reicht jedoch aus um zu erkennen, wie gut sich die starke Reduktion synthetischer Klänge diesmal auswirkt, ebenso Wakefords schlichter Gesang, dessen Herbheit die Melodien in „Bedlam“, „Spitfire“ oder dem Titelsong noch berührender macht. Freunden seiner eher rauen Werke werden die Stellen besonders schätzen, in denen die Klänge vorübergehend ihre schlichte Schönheit suspendieren und dem Chaos ein gut bemessenes Einfallstor bieten. Die Backing Vocals im Sopran mögen ihnen vielleicht eine Spur zu „heavenly“ sein. Andere wiederum werden vielleicht gerade an diesen Stellen nostalgisch bei der Erinnerung an die Zeit, als Sally Doherty oder Eric Roger zum Orchestre gehörten. Tonys derzeitige Weggefährten setzen deren Werk jedoch würdig fort, besondere Hervorhebung verdienen m.E. Mark Beigent an der Oboe, Richard Moult (u.a. UNITED BIBLE STUDIES, auch verantwortlich für das ansprechende Artwork und vom Label vielleicht etwas voreilig mit CURRENT 93 in Verbindung gebracht) am Klavier und der Drummer Reeve Malka alias M, dessen Taktschlag „Circus“ sogar etwas Beschwingtes verleiht, bevor auch dieser Song sehr nachdenklich endet.

Dass Pessimismus nicht immer mutig und ehrlich sein muss, und gerne mal zu saurem Kitsch und eitler Oberlehrerattitüde verkommen kann, ist altbekannt. Mit seinem schwarzen Orchester tappt Tony jedoch in keine dieser Fallen. Als Geist der stets verneint, erscheint er hier in all der Ernsthaftigkeit doch eher als schalkhafter Mephisto – vielleicht, weil er sein Experiment in Sachen Nihilismus in Form vorsichtiger Fragen vorbringt, statt in Binsenweisheiten. Vielleicht auch, weil Tony auch keineswegs nur zu den schon Bekehrten predigt, denn ganz so abgeklärt und hoffnungslos kann ein Publikum nicht sein, dass sich für solch anrührende Klänge zu begeistern weiß. (U.S.)