ROZZ WILLIAMS: The Lost Recordings

Rozz Williams hat spätestens mit seinem Freitod am 1. April 1998 endgültig (s)eine Apotheose erfahren und ist in den Olymp (oder besser: Hades) eingekehrt. Obwohl primär durch seine songorientierten Arbeiten verkultet –  Christian Deaths 1982 erschienenes Debüt „Only Theatre of Pain“ dürfte eines der besten Death Rock-Alben aller Zeiten sein,  Shadow Projects zweites Album „Dreams for the Dying“ fügte gothischer Grundstimmung komplexe und experimentelle Strukturen hinzu, seine zwei sicher von Jim Morrisons „American Prayer”-Album beeinflussten Spoken Word- Alben präsentierten Szenarien gespeist aus Heroin- und Alkoholabusus, aus Depression(en) und (A-)Religiosität.

Williams war aber schon in der Frühphase von Christian Death an experimenteller Musik interessiert, die er zusammen mit Ron Athey –  seinem damaligen Partner –  mit dem Performanceprojekt Premature Ejaculation erforschte.

Die (Wieder-)Veröffentlichung der „Lost Recordings“ durch Malaise Music ist ein Mammutprojekt, sollte man Vergleiche im weiteren Feld randständiger Musik suchen, fällt (nur) noch die „Merzbox“ ein. So sollen innerhalb der nächsten Jahre etwa 30 (Doppel-)CDs/DVDs veröffentlicht werden und wenn im Booklet steht, dass man nicht vorhabe, mit diesem Projekt Gewinn zu erzielen, mag man das zuerst als Koketterie abtun, Fakt ist aber, dass diese Musik nur für wenige (Fans) geeignet ist. Diese Aufnahmen (wieder) zugänglich zu machen, hat primär dokumentarischen, archäologischen Charakter – statt „entertainment through pain“ vielmehr „pain through entertainment“. Wenn man darüber hinaus bedenkt,  dass heutzutage Bands wie Labels, ob Major oder Indie, unter der Flut illegalen Downloads leiden, was letztlich kleineren Labeln und Künstlern die Existenzgrundlage entzieht – vgl. auch die Äußerungen von Brian Williams im Interview- , dann muss man einem Unterfangen, das  obskur(st)e, teils nie zuvor veröffentlichte Musik zugänglich machen will, attestieren, im positivsten Sinne anachronistisch zu sein.

Musikalisch erinnern die frühen Aufnahmen mit ihren (oftmals) aus sehr wenigen Loops konzipierten Stücken an den frühen Boyd Rice, insbesondere an das „Black Album“; ästhetisch/thematisch verweisen die geschundenen,  verletzten und kranken Körper an die Konzentration auf das Pathologische bei den frühen SPK – bei Williams nicht in einen Überbau aus Foucault und Poststrukturalisten gebettet, sondern gespeist aus Disneyland und der Kehrseite des amerikanischen Traums. Dass Williams’ Tapelabel, auf dem einige der Aufnahmen ursprünglich veröffentlicht wurden, in Anlehnung an Disneyland  The Happiest Place on Earth –  später aus rechtlichen Gründen in The Happiest Tapes on Earth  umbenannt –  hieß, ist bezeichnend.

Schockten die Konzerte der frühen Christian Death durch Blasphemie (fast schon eine logische Konsequenz aus dem Aufwachsen in einer strengen Baptistenfamilie), fügten die Premature Ejaculation-Auftritte dem noch  Transgressionen in der Tradition von Performancekunst und Wiener Aktionismus hinzu.

Premature Ejaculation versinnbildlicht (damit) auch immer wieder die Kehrseite des amerikanischen Traums; eines Traumes in einer Nation, in der das Streben nach Glück im Gründungsdokument verankert ist. Kalifornien, in dem Williams den größten Teil seines Lebens verbrachte, ist vielleicht der Staat, in dem dieses Versprechen (und die damit verbundene Heilserwartung) am meisten aufgeladen ist, was gleichzeitig bedeutet, dass beim Scheitern die Enttäuschung – die Fallhöhe – umso größer sein muss. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Kalifornien Manson und La Vey hervorgebracht hat und so viele andere Formen von kruden Heilsversprechen (Harold Bloom spricht sogar vom „Kalifornischen Orphismus“ um die dort zu findenden Spielarten von New Age zu bezeichnen) – ebenso wie es durchaus Gründe dafür gibt, dass Lovecraft, Poe und auch King in Neuengland, dem ältesten Teil der jungen Nation, leb(t)en und schrieben/schreiben.

Die teils aggressive Thematisierung der anderen Seite  findet sich ebenfalls in den Produkten eines anderen Mediums und zwar in den einige Jahre vor diesen Aufnahmen gedrehten Frühwerken von Romero, Hooper und Craven.

Williams kanalisiert all das durch seine  Musik und seine Collagen/Bilder, in denen dem (damals noch nicht so fortgeschrittenen Extrem-)Kapitalismus immer wieder totalitäre Züge attestiert wurden, wobei sich in Williams’ Arbeiten zum Teil schon das angedeutet fand, was insbesondere bei Power Electronics-Bands virulent werden sollte: Ein Changieren zwischen Konfrontation (nach dem Motto „Some people don’t want to know what’s going on around them.“ (Slogan eines Premature Ejaculation-Posters)) mit dem Abjekt (Kristeva) um mankind einen Spiegel vorzuhalten, aus dem die verzerrte Fratze des manunkind (Cummings), des Untiers (Horstmann) blickt und gleichzeitig auch (und vielleicht unumgänglich) eine Faszination am Verfemten, ein Schau(d)ern angesichts des Grauens, zu dem das Säugetier Mensch fähig ist. Diese Janusköpfigkeit des Projekts durchzieht die gesamten Aufnahmen und Bilder: „Die Zivilisierten verhüllen das Gesicht ihrer toten Mitmenschen“ schreibt Bataille –  insofern sind Williams und Athey bzw. später Chuck Collision unzivilisiert.

Die Doppel-CD „Part 1“ enthält frühe(ste) Aufnahmen: Störgeräusche, die an den frühen Mauricio Bianchi denken lassen (Track 1), auf wenige Töne reduzierte Stücke (Track 2), Feldaufnahmen (Track 3), einzelne Loops, in die sich weitere schleichen (Track 4) – das ist Experiment und Versuch(-sanordnung).

Die Bonus-CD wirkt durch die Mischung aus Metallperkussion, Loops und Einsatz von Bass (?) wie eine Jamsession  in einer Anstalt für Geisteskranke, gerade wenn sich  Williams und Athey (?) gegen Ende so anhören, als werde ein Exorzismus an ihnen vorgenommen.

„Part 2“ (ebenfalls zwei CDs)  ist – obwohl in einem ähnlichen Zeitraum entstanden –  atmosphärisch dichter: Trotz aller Fragmentierung ist das Album, auf dem auch verfremdete Stimmen und Atemgeräusche eingesetzt werden, zusammenhängender, (auch) weniger auf Schock bedacht. Das klingt interessanterweise wie die im gleichen Jahr gemachten Aufnahmen von William Bennetts Projekt Bradford Red Light District (das die beiden sehr wahrscheinlich nicht kannten) – nun also kein Gang durch das Rotlichtviertel sondern durch den Trailerpark.

Die Bonus-CD enthält im besten Sinne (ver-)störende Tracks, auf denen Samples eine zentrale Rolle spielen. Dabei ist das verwendete Material auf Track 2 („O Fortuna“ aus Orffs  „Carmina Burana” und „Das Moritat von Meckie Messer“ aus Brechts „Dreigroschenoper”) heute nicht mehr wirklich originell, das aber den zum Zeitpunkt der Aufnahmen (1982) etwa 19-jährigen heute vorzuwerfen, wäre ein Anachronismus. Track 3 sorgt für comic relief, besteht primär aus Ausschnitten aus einem Aufklärungs-Tape/Video. Track 4 verzichtet weitgehend auf Samples und hört sich an, als wäre er unter einer Autobahnbrücke aufgenommen worden. Die CD klingt mit einem 11-minütigen Störgeräusch aus und lässt den Hörer erschöpft zurück.

„A little  hard to swallow“ enthält Material eines unveröffentlichten Tapes (jede Seite macht eine CD aus): Sprachsamples, Loops, repetetive Passagen, Metallperkussion, Samples aus religiösen Sendungen, verlangsamte Stimmen – eine oftmals stimmige Bricolage, die die erste Phase von Rozz Williams’ experimentellen Arbeiten beendet.

Die Doppel-CD „Living Monstrosities/Descent“ ist der vierte Teil der Serie und enthält 1985 aufgenommene Tracks (entstanden, nachdem Williams Christian Death nach „Ashes“ verlassen hatte), die ohne Athey, dafür zusammen mit Chuck Collision gemacht wurden. Man findet auf „Living Monstrosities“ erneut die inzwischen für das Projekt so charakteristischen Loops und Sprachsamples, wobei der lange Track verglichen mit den früheren Aufnahmen dynamischer und strukturierter klingt, im letzten Drittel kurzzeitig auch brachial-atonale Momente enthält.

„Descent“ ist ein etwas anders ausgerichtetes, sehr homogenes Stück, das wesentlich stärker Noiseelemente enthält und – wenn man so will- am industriallastigsten ist: Das ist Musik aus der amerikanischen Alptraumfabrik,  die in dieser Form in Großbritannien vielleicht  auf Broken Flag nicht fehl am Platz gewesen wäre.

Eventuell mag der eine oder andere damals gedacht haben, dass die beiden Premature Ejaculation-Tracks auf der „Amercian Gothic“-Compilation inmitten des Death Rocks fehl am Platze wären, aber eventuell ist diese Musik der wahre American Gothic.

To be continued…

(M.G.)