Um es ganz klischeehaft zu sagen: Dunkle, melancholische Popsongs sind seit Jahren wieder in. Etwas differenzierter kann man festhalten, dass vor einiger Zeit in gewissen Independent-Kreisen das Potenzial waveinspirierter Klänge mit 80er-Jahre-Referenz wiederentdeckt wurde und nun eine neue Würdigung erfährt. Wenn dabei so Unterschiedliches wie EDITORS, ZOLA JESUS, BLESSURE GRAVE oder A PLACE TO BURY STRANGERS herauskommt, ist das eine dankenswerte Bereicherung, ganz zu schweigen von dem Kontrapunkt, den so etwas darstellt gegenüber all den nach Jahrzehnten kaum noch zu ertragenden DEPECHE MODE-Partys und anderen Seniorentreffs, die mehr mit Festgefahrenheit als mit Rückbesinnung zu tun haben.
All diese Referenzen spielen auch eine Rolle im neuesten Werk des Amerikaners Jamie Steward und seiner Band XIU XIU (ausgesprochen „Schuschu“), zu deren von Album zu Album beinahe konsequent fluktuierender Besetzung neben der neuen Kopilotin Angela Seo nun auch einige graue Eminenzen aus dem Zentrum von DEERHOOF und COLD CAVE, sowie aus der Peripherie von John Zorn und Carla Bozulich zählen. Steward ist einer dieser Sänger, die am Mikro unmissverständlich um Erlösung flehen, die diesem Anliegen gegenüber empfundene Skepsis aber zugleich mitliefern. Dies zeigt sich schon auf dem bereits als Single ausgekoppelten „Grey Death“, und wer eine derartige Gesangsattitüde nicht schätzt, könnte das schnell weinerlich und entkräftend finden. Hörer, die die mittlere Schaffensphase von THE CURE in Ehren halten, könnten jedoch an der Kombination aus trotzig-traurigen Vocals, akustischem Intro, dezenten Postpunk-Riffs und gelegentlich wie verzweifelt malträtierten Drums, deren Bearbeitung beileibe nicht kraftvoll klingen will, ihre Freude haben. Ähnliches ließe sich auch zum Titelsong sagen, bei dem Jamie beinahe wie ein Hybrid aus Robert Smith und Martin L. Gore seiner sanft-dunklen Stimme ein leichtes Tremolo verpasst und zu einer Mixtur aus leicht dumpf klingendem Postpunk-Instrumentarium und dezent eingeflochtenen Computerspielsounds einem Weltschmerz Ausdruck verleiht, der nicht aufgesetzt wirkt. Texte und Musik verhalten sich, trotz einer beachtlichen Vielfalt, harmonisch zu einander. Neben den etwas allgemeineren Leitmotiven wie einem von Widersprüchen geprägten (neurotischen) Selbsthass und schmerzhaftem Weltzweifel stehen die ambivalente Beschäftigung mit dem eigenen Körper im Zentrum des lyrischen Interesses. Etwas profaner könnte man auch sagen, dass es in einigen Stücken um Bulimie und Anorexie geht. So beispielsweise in dem bitter ironischen „Chocolate“, dessen virtuose Dynamik nicht verspielt wirken will, sondern vielmehr einer Ausgelassenheit der Verzweiflung Ausdruck verleiht. Oder auch im Titelsong, dessen abstraktere Lyrics erst durch den bereits oft kommentierten Videoclip (so etwas wie ein fieser Antipode zu Johnny Depp und Juliette Binoche in „Chocolat“) mit der entsprechenden Semantik aufgeladen werden. Man kann dies, wenn man so will, als musikalisches Pendant zu Autorinnen wie Karen Duve und Marlene Streeruwitz oder zumindest zu Teilaspekten ihres Werks betrachten, man muss aber vielleicht auch gar kein so großes Brimborium darum machen, denn das Thema findet konstante künstlerische Umsetzung, und wird auch hier bloß ein weiteres Mal solide ins Werk gesetzt. Xiu Xiu wollen nicht schockieren oder demonstrativ originell sein, sondern einfach sagen, was es zu sagen gibt. Man könnte noch einige Höhepunkte besonders herausheben, genannt sein sollen noch das dronige „Impossible Feelings“, das mit Chorgesang angereicherte „This Too Shall Pass Away (For Freddy)“ das Traditional „Cumberland Gap“, bei dem dann auch ein Banjo zu hören ist, oder nicht zuletzt auch die hermetische Hommage „The Fabrizio Palumbo Retaliation“ – der unermüdliche Turiner Bassist Palumbo ist vor allem durch Bands wie LARSEN und BLIND CAVE SALAMANDER bekannt und kollaborierte bereits mit Steward unter dem Projektnamen XXL (Xiu Xiu Larsen).
„Dear God, I Hate Myself“ ist ein Album voller Emphase und voller Aufbegehren. Dass Sturm und Drang allerdings in jeder Note durch einen ebenso trotzigen Fatalismus konterkariert werden, macht die unauflösbare Spannung des hier verhandelten Schmerzempfindens aus und zielt ins Zentrum der einleitend genannten kulturellen Referenzen. Wer also noch nach einer wirksamen Medizin gegen die derzeit virulenten Frühlingsgefühle sucht, der sollte beim Apotheker seines Vertrauens nach der neuen Xiu Xiu fragen. (U.S.)