UR / D.B.P.I.T.: Defenestration

Flavio Rivabella alias D.B.P.I.T. integriert sein Trompetenspiel und seine Field Recordings gerne in größere Kontexte, sei es in Form einer Band oder im Rahmen audiovisueller Arbeiten wie aktuell mit seiner Partnerin xXeNa. Diesen Sommer bahnte sich eine Zusammenarbeit mit dem aus Genua stammenden Trio Ur an – das Resultat lautet „Defenestration“ und vermittelt einen interessanten Eindruck von dem, was man (vielleicht etwas prätentiös) mit postindustrieller Archaik umschreiben könnte.

Ur (nicht zu verwechseln mit der amerikanischen Band Underground Resistance) gründeten sich vor circa sechs Jahren, um gemeinsam ihrem Interesse an frei improvisierter Musik nachzugehen, und auch wenn ihre Alben primär an Ritual Industrial denken lassen, ist eine Nähe zu Psychedelic und Krautrock nicht zu überhören: Die auf den ersten Eindruck chaotisch wirkenden Perkussionseinlagen fügen sich nach Momenten der Entgrenzung immer wieder in repetitive Muster, die dem Hörer einen Weg durch eine Klangwelt bahnen, die von vielen unberechenbaren Details bevölkert ist. Die Details, das können eine Vielzahl referenziell unsicherer Klänge sein: Wasserrauschen, das sich zunächst wie das leise Gezwitscher von Singvögeln anhört, geheimnisvolles Murmeln, das Rasseln von Metallschellen. Oder nicht zuletzt ein dumpfes Brummen, das sich wie ein roter Faden durch die Musik ziehen wird. Assoziationen zu ganz frühen Current 93 sind zulässig, aber auch zur Opferszene aus Pasolinis „Medea“ mit ihrer großartigen Musik. Im weiteren Verlauf wird die Musik immer „technischer“ und perkussiver, bietet in subtiler Form das, was bei Gruppen wie den Tambours du Bronx oder den Landsleuten von Terroritmo demonstrativer im Vordergrund steht. Aber unabhängig von Sound und Gangart bleibt sie durchgehend schwierig und fordert Konzentration. „Defenestration“ bedeutet im übrigens „Fenstersturz“ und ist als Unmutsäußerung oder als Werfen eines Fehdehandschuhs mehrfach aus der Geschichte bekannt – der symbolische Akt, mit dem man eine unliebsame Machtinstanz buchstäblich hinauswirft. Wer oder was hier aus dem Fenster stürzt bleibt offen, auch wenn das jüngere italienische Tagesgeschehen sicher Stoff für Assoziationen bietet.

Rivabellas postindustrielle Trompete tritt meist recht dezent in Erscheinung, bleibt bei manchen Stücken lediglich im Hintergrund und bildet einen entspannten Gegenpart zu der oft undefinierbaren Stimmung der restlichen Sounds, die zu hypnotisch sind für reines Unbehagen, zu geheimnisvoll für eine banale Schöngeisterei der dunklen Art. Die Melodien sind kaum besonders komplex, aber zugleich eine wichtige Ergänzung zu den Geräuschen, von denen auch Rivabella einige beigesteuert hat. An einigen Stellen klingt seine Trompete wie aus einem Radio, das irgendwo am Rande der Szenerie spielt, in der die Geräusche real sind – ein seltsames Zitat aus einem loungigen Folksong und ebenso ein nonchalanter Kommentar, der zu all dem Chaos mit einer einfachen Melodie das finale Wort abgibt. Bisweilen wird sie als reine Soundquelle integriert – primär bei „Deep Sleep Dub“, in dem sie helle Streifen in das dunkle, perkussive Chaos zeichnet: ein abstraktes, expressionistisches Farbenspiel à la Jackson Pollock auf einer Leinwand, auf die Ur eine Szene voll dunkler, undefinierbarer Bewegungen projizieren.

Sollte man einen Wermutstropfen suchen, dann findet er sich noch am ehesten in der Tatsache, dass Ritualsounds und Postindustrial bereits drei Dekaden Musikgeschichte zu verbuchen haben, und dass selbst eine originelle Musik nicht mehr die revolutionierende Wirkung erzielen kann, die noch bis in die 90er möglich war. Dieses Bedauern ist aber im Grunde als Kompliment an das gemeinsame Projekt der Italiener zu verstehen, die mit „Defenestration“ den Score für ein gelungenes postapokalyptiches Szenario geschaffen haben.

Label: Triadic Records