Als ich mich nach dem Abitur für ein paar geisteswissenschaftliche Fächer eingeschrieben hatte, war das – neben dem Wunsch, besser fachsimpeln zu können – vor allem, weil ich in Mathe scheiße war und gar nichts anderes hätte studieren können. Ich hab’s bis heute nicht bereut. Dass Kultur- und Naturwissenschaftler oftmals in zwei getrennten Parallelwelten leben und nur ein eng begrenztes Repertoire an Klischeevorstellungen voneinander haben, ist auch mir recht früh aufgefallen, eine Ahnung bekommt man davon ja bereits als Schüler. Die einen machen etwas, dass ganz nett ist, aber eigentlich nichts mit Wissenschaft zu tun hat, die anderen sind eigentlich keine richtigen Intellektuellen, sondern Handwerker mit Hochschulabschluss u.s.w. Gerade den an Wissenschaftstheorie so interessierten KuWis sollte man eigentlich zutrauen, da etwas weniger borniert zu sein. Abgesehen von dem auch wirklich nur schwer überbrückbaren Graben, der sich zwischen den populären Diskurstheorien und beispielsweise der Biologie auftut, funktioniert das auf dem Papier auch meistens ganz gut, aber letztlich sollte man die Mentalität eines Milieus weniger an offiziellen Statements messen, sondern an den vielen kleinen Selbstverständlichkeiten, die sich alltäglich unter der Hand ereignen. „Interdisziplinär“ meint am Philosophikum so viel wie „Vertreter aller nicht-Naturwissenschaften sagen etwas zu einem Thema“, und als nach Dietrich Schwanitz’ populärem Kanonwerk „Bildung“ die naturwissenschaftliche Ergänzung „Die andere Bildung“ (Ernst P. Fischer) erschien, wurde sie in einschlägigen Kreisen eher genervt zur Kenntnis genommen. Bildung, das ist in erster Linie Philosophie, Literatur und Kunst.
Doch was hat das nun mit einer Zeitschrift inkl. CD-Compilation namens „Occulto“ zu tun, die in musikalischer Hinsicht mit einer respektablen Mischung aus hypnotischen Drones, Surfrock, Akustik-Balladen, abenteuerlichen Fieldrecordings und groovigem Mondo-Sound aufwartet? Nicht wenig, denn die aktuelle Ausgabe des englischsprachigen Heftes, das sich selbst „the dubious magazine which brings together science, humanities and arts“ nennt und in schlicht eleganter „form follows function“-Gestaltung präsentiert, geht unter anderem der Frage nach, warum sich der Kunstdiskurs seit der Aufklärung so sehr dem Interesse an (natur-)wissenschaftlichen Fragen und Phänomenen verschlossen hat, darin sogar oftmals etwas Verfemtes, Feindseliges sieht, das man im allgemeinen Sprachgebrauch nicht einmal zur „Kultur“ zählt. Besonders zur Sprache kommt diese Frage in dem Interview mit dem Wissenschaftshistoriker Enrico Bellone, der sich seit langem mit den geschichtlichen Veränderungen befasst, denen das Verhältnis der wissenschaftlichen und künstlerischen Milieus seit der Renaissance unterliegt. Bellone registriert einen wissenschaftlichen Analphabetismus in der heutigen Alltagskultur und plädiert für eine unprofessionelle wissenschaftliche Neugier im Geiste des Humanismus – eine bedenkenswerte Reflexion, bei der man allerdings drauf achten sollte, den Wissenschaftsbegriff wiederum nicht zu einseitig naturwissenschaftlich zu setzen, denn nichts wäre am Ende unproduktiver, als eine Einseitigkeit gegen die entgegengesetzte einzutauschen. Man könnte mit anderen Beispielen, aber einer ähnlichen Argumentation ebenso ein weit verbreitetes Desinteresse an Kunst, Philosophie oder beispielsweise den religionsgeschichtlichen Wurzeln unserer Mentalität konstatieren, und hätte nicht minder recht.
Das Okkulte ist in dem Zusammenhang ein interessanter Kampfbegriff. Okkult meint nicht nur wörtlich „versteckt“ oder „geheim“, sondern der Konnotation nach auch mystisch und irrational, im Grunde also das Gegenteil des wissenschaftlich Erklärbaren. Die Vorstellung, dass bei vermeintlich Unerklärlichem die wissenschaftliche Aufarbeitung letztlich bloß noch aussteht, ist allgemeiner common sense – der Verfasser des Essays „Occult Studies in Zoology“ setzt sich unter anderem mit verborgenen Phänomenen der Anatomie wie dem occult bleeding, dem unbemerkten geringfügigen Blutverlust, auseinander. Das Okkulte ist für ihn primär ein quantitativer Begriff, mit dem er der ästhetischen Seite der Mikrofotografie nachspürt und dabei einige Funde von beeindruckender Schönheit ans Tageslicht holt. Unterschiedliche, meist essayistische Abhandlungen zu Themen wie dem Weiterleben geozentrischer Weltbilder in überwiegend religiös-fundamentalistischen Milieus, der naturwissenschaftlichen Sicht auf elektronische Musik und vielem mehr decken eine interessante Schnittmenge zwischen Hard Science und Kulturgeschichte ab, und oftmals schreiben Künstler, Musiker oder Wissenschaftler über Themen, die nach herkömmlicher Vorstellung nicht ihr Metier sind. Insgesamt wirkt das recht frisch und wie der Auftakt zu einem Konzept, das noch lange nicht abgegriffen sein wird und – auch eventuell mit einem Blick über den westlichen Tellerrand hinaus – noch einige interssante Endeckungen bereit hält.
Literarische Texte und Fotoillustrationen leiten über zum musikalischen Teil, dessen Schwerpunkt auf Acts des Boring Machines-Labels keinesfalls von Nachteil ist. Den Auftakt bildet das hypnotische Drone “Chàsm Achanés” von Luciano Maggiore und Francesco Fuzz Brasini, das bereits auf dem Wire Tapper #25 einer größeren Hörerschaft präsentiert wurde. Aus dem subtilen wie undefinierbaren Klang, der an ein tiefes Holzblasinstrument erinnert, kristallisieren sich immer neue, auch atonale Stränge heraus. Die Band mit dem Tongue Twister-Namen How Much Wood Would A Woodchuck Chuck If A Woodchuck Could Chuck Wood? präsentiert einen introvertierten Folksong – dunkel, repetitiv und von leiser Melancholie. Die bis dato eher unbekannten Cannibal Movie dagegen lassen mittels spaciger Orgeln und ekstatischer Trommeln den Geist alter Exploitation-Filme zu neuem Leben erwachen. Dumpf und geheimnisvoll wird es bei Father Murphy, das monotone Akkordeon und der wie hinter einem Schleier versteckte weibliche Gesang wissen eine desolate Stimmung heraufzubeschwören. Es gibt ferner Rituelles mit Sinn für Details und Humor (Mamuthones, Hermetic Brotherhood of Lux-or), doomigen Surfrock (Heroin in Tahiti), derangierten Ambient (Von Tesla) und eine undefinierbare Komposition zwischen schrägen Field Recordings und sattem Acid Rock (Squadra Omega).
Ein Geheimtipp ist „Occulto“ in zweifacher Hinsicht. Zum einen gemünzt auf die Obskurität vieler Beiträge, zum anderen im Hinblick auf den ungewöhnlichen intermedialen Ansatz und die Bandbreite der behandelten Themen. Das darf gerne so fortgesetzt werden, und vielleicht ist der einleitende Slogan „We need more disciplines in here“ ja darauf gemünzt.
Magazin: Occulto
Label: Boring Machines