Industrial ist ein Begriff, über den es sich vortrefflich streiten lässt. Für die Mehrheit der Musikkonsumenten, die vermutliche eine schweigende ist, gilt Industrial durchaus als Genre mit einer organischen Geschichte, und wenn jemand im Jahr 2012 etwas macht, dass wie SPKs „Information Overload Unit“ in etwas glatter klingt, dann wird das dort in der Regel weder als unzeitgemäß, noch als peinlich empfunden. Oberstes Kriterium ist, dass die Musik lärmig und irgendwie elektronisch sein muss, gerne darf sie auch düster oder tanzbar sein. Andere wiederum betrachten Industrial als ein Ereignis, eine kulturelle Sprengladung, die irgendwann relativ zeitgleich zum Phänomen Punk detonierte und Dinge miteinander verband, die schon seit geraumer Zeit nur darauf gewartet hatten, zu einer kurzlebigen und explosiven Synthese zu gelangen – als einen intensiven und folgenschweren Moment, im dem radikale Performance, gewollte Disharmonie, klangliche Objektkunst und konsequente aufklärerische Negation das Größtmögliche aus sich herausholten. Was danach kam, ist nach dieser Sichtweise Post-Industrial, und dazu kann alles mögliche zählen von Rhythm Noise über Ritual bis Neofolk, bestimmte Ambientsachen und nicht zu vergessen Power Electronics: ein Phänomen, das die aufklärerische Agenda der alten Schule meist auf das Niveau eines banalen Wutanfalls herunterbricht und dabei alarmistisch-abgeklärte Weisheiten über die Kultur des Kapitalismus herausbrüllt, die schon der göttliche Marquis vor zwei Jahrhunderten mit der Natur des Menschen verwechselte. Wenige Definitionen dagegen nehmen den Begriff Industrial auf eine Art ernst, bei der die musikalischen Entstehungsprozesse im Zentrum stehen und die Maschine zunächst ganz buchstäblich zum Instrument und in zweiter Linie zum facettenreichen Symbol einer Welt- und Selbstwahrnehmung wird.
Würde man Industrial primär so definieren, dann würde ihn das in der allgemeinen Wahrnehmung näher an die Avantgarden der klassischen Moderne rücken, die in nervöser Aufgeregtheit das Ganz Neue propagierten. Ein Künstler wie Jean-Marc Vivanza aus Grenoble würde dann mit seinen Ideen zum musikalischen Bruitismus einen noch größeren Klassikerstatus verliehen bekommen. Vivenza, der neben seiner Musikertätigkeit Kurator und in den letzten Jahren vor allem Autor einiger musikethologischer und religionsgeschichtlicher Bücher ist, zählt zu den Urgesteinen zeitgenössischer Geräuschmusik, mit Glance und Mécanique Populaire gründete er in den 70ern zwei der frühesten französischen Industrial-Projekte, an die er ein halbes Jahrzehnt später mit seinen Soloarbeiten anknüpfte. Konsequenter als zahlreiche Kollegen baut der Franzose Klanglandschaften ausschließlich auf der Basis realer Maschinensounds, machte Feldaufnahmen in Fabriken, zeichnete die Klänge von Apparaten und Arbeitern auf und montierte die Aufnahmen zu urtümlichen Kollagen.
Die vitale und oft brutale Energie, die er damit bloßlegt, sieht er als das verdrängte Herzstück und die geheime Triebkraft unserer gewaltsam gezähmten Alltagswirklichkeit. Im Unterschied zu vielen anderen Noisemusikern geht es ihm nicht um die Anklage von Entfremdung und Künstlichkeit, sondern um die Suche nach dem Echten, Realen, das sich auf ungewöhnliche Art auch und gerade im Modernen Bahn bricht, mag es auch eigentlich etwas Archaisches, Erdverbundenes sein. Henri Bergsons élan vital und natürlich Nietzsche hallen aus einem solchen Konzept wieder, sein eigentliches Idol war der Futurist Luigi Russolo, dessen am Klangmatrial orientierte Geräuschkunst er einer eher vergeistigten Musique concrète im Sinne Pierre Schaeffers gegenüberstellt. Ein solcher Vitalismus hat allerdings seinen Preis, denn die „objective materiality of noise“ reduziert den Komponisten letztlich zum Rezipienten und abhängigen Kompilator, zu einer entsubjektivierten Figur vergleichbar dem Jünger’schen Arbeiter: In solchen Denkansätzen gilt die Industrie mit all ihren Disziplinierungsaspekten nicht als Gefängnis des Subjektes, sondern als eigentliche Bestimmung und Befreiung einer modernen Gestalt. In der Regel stammen solche Theorien freilich von Menschen, die selbst nie eine Maschine bedient haben und damit schon gar nicht die Hälfte ihres Wachzustandes zubrachten (vielleicht sollte man allzu naive Verklärer des Technokratischen zur Strafe Robert Kurz-Bücher per Hand abschreiben lassen?), ähnlich wie der den Fordismus und seine Folgen glorifizierende Ästhetizist Warhol die spätmoderne Entfremdung nur als Zaungast kannte – ich erwähne das, weil Vivenza einmal im antipopulären Furor Warhol-Ikonen verbrannt haben soll, was eigentlich irritieren sollte. So elitär sich futuristische Postulate in der Wortwahl auch gegeben haben, all ihre positiv besetzten Werte zielen auf Masse und seriell Produziertes ab, was keineswegs diametral ist zum „all is beautiful“ des Popart, dessen knallbunte Fetische unter der Oberfläche ebenso archaisch sind wie Vivenzas industrielle Wucht. Seine Forschungen brachten ihn über die Jahre in Kontakt mit Denksystemen vom Futurismus und Konstruktivismus bis zur Integralen Tradition, die Sekundärliteratur erwähnt ein zeitweiliges Liebäugeln mit der Rechten, bevor er sich dem Monarchismus und der Freimaurerei zuwandte. Viel Quellenmaterial gibt es zu all dem nicht, und auch in der „Sound“-Ausgabe von Testcard wird behauptet und zugleich geschwiegen, wo fundierte Kritik gewinnbringender gewesen wäre.
Das Label Rotorelief ist seit ein paar Jahren dabei, frühe LPs und Tapes Vivenzas neu aufzulegen, und m.E. eignen sich die beiden Stücke auf „Réalité de l’Automation Directe“ am besten, um sich eine Vorstellung seiner Musikpraxis zu machen (ebenfalls bei Rotorelief neu erschienen: „Veriti Plastici“, ferner “Modes Réels Collectifs” und „Réalités Servomécaniques“). Die vielbeschworene Energie ist allem voran eines: monoton. Rauschige Sounds, eventuell mit Pressluft erzeugt, werden zu Rhythmen, die wie aus Distanz aufgenommen erscheinen und fast den Eindruck erwecken, jemand hätte das Aufnahmegerät im Korridor einer Fabrikhalle platziert und die sich selbst überlassenen Töne aufgezeichnet, die schabend, brummend und rasselnd durch halboffene Türen dringen. In einem Raum wird gefräst, im nächsten geschweißt, im dritten gehämmert u.s.w., was durch die Überblendung eine interessante Orchestrierung erfährt. Der Eindruck räumlicher Mittelbarkeit entspricht einem „authentischen“ Sound, im Hintergrund fallen ab und an Stimmen, und mit der Zeit fallen weitere Brüche wie Taktverletzungen und spontane Soundwechsel auf, die demonstrieren, dass die Monotonie keine domestizierte ist, sondern unter ihrer Oberfläche etwas Vorzivilisatorisches anklingen lässt.
Interessant und für viele Kritiker vermutlich Angriffsfläche Nummer 1 ist die naheliegende Vorstellung einer alten Fabrik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der Industriekapitalismus noch blühte und das Metall als Inbegriff eines moderne Materialismus noch nicht vom Kunststoff überholt worden ist – mit anderen Worten: als etwas überkommenes, das sich nostalgisch verklären lässt. Im Unterschied bspw. zur Dytopie vom Throbbing Gristle und anderen ist das lupenreiner Illusionismus, auch ohne Wohlklang, und vom schrottfreien Metallsound Vivenzas ist es nur ein Schritt bis zur schönen neuen Maschinenwelt von Esplendor Géometrico und all ihren bedeutungslosen Epigonen. Auch als musikalische „history lesson“ hat Vivenzas Bruitismus einen musealen Aspekt, der für einen Futuristen eigentlich ehrenrührig ist – denn eine über veränderte Aufnahme- und Bearbeitungsmöglichkeiten hinausgehende Weiterentwicklung klassischer Avantgardepostulate, die in ihrer Zeit noch Bärte stutzen konnten, kann ich mit bloßem Ohr nicht erkennen, und die Überführung von Ideen aus einer irgendwann nur noch akademischen Welt in die Sphäre der Unbefugten erweist sich schnell als Ideentransport von einer Subkultur zur nächsten. Das ist das eine. Dem entgegen steht, dass Museen nicht nur tote Kulturkasernen sind, sondern ihre Inhalte auch zur Erforschung bereitstellen. Im Falle Vivenzas, wie kritisch man ihn auch sehen mag, lohnt dies durchaus. Ach und fast hätte ich es vergessen: Schön klingen sie, seine altmodischen Apparate. (U.S.)
Label: Rotorelief