CANNIBAL MOVIE: Mondo Music

Cannibal Movie sind eine Combo, deren Werk man als eine leidenschaftliche Hommage betrachten kann. Den Gegenstand der Verkultung muss man nicht lange suchen, denn er liegt in so ziemlich jeder künstlerischen Äußerung des Duos auf der Hand – Bandname, Titel und natürlich die Musik referieren auf eine Zeit, in der auch das Reißerische und Triviale eine würdevolle Ästhetik ausstrahlen konnte und weit entfernt war vom grellen Ramsch der folgenden Jahrzehnte. Gemeint sind die 60er und frühen 70er mit ihrer charakteristischen Populärkultur, eine Zeit, in der aus der Ikonografie des Konsums noch Popart werden konnte. Heute undenkbar, außer man verschreibt sich der Retromanie.

Als Italiener und Cineasten steht Cannibal Movie, die sich der Retromanie ganz entschieden verpflichtet fühlen, ein riesiges Archiv an Inspirationsquellen zur Verfügung. Es wäre falsch, das italienische Genrekino dieser Ära über einen Kamm zu scheren, denn Giallo, Polizeifilm, Western, Gothic Horror und nicht zuletzt der Mondo- und Kannibalenfilm funktionierten nach je eigenen visuell-narrativen Mustern und sprachen auch nicht immer das gleiche Publikum an. Dennoch verallgemeinert man aus der zeitlichen Distanz, und das nicht ganz zu unrecht: Ob Spannung, Erotik oder abgeklärter Zynismus die Bilder prägen, stets registriert man in ihrer visuellen Pracht, ihrer markanten Symbolsprache und der sinnlichen Begleitmusik eine fast naive Lebenslust und eine Amoralität, die immer wieder in de Sade’scher Manier suspendiert wird, um durchaus moralisch die scheinheilige Fassade des Etablierten einzureißen. Die Genres waren durch die Bank populär, Stephen Thrower spricht in einer Monografie von volkstümlicher Kultur. Es ist anzunehmen, dass Auskenner, die alles über Schnittfassungen oder das Werk eines Regisseurs herunterbeten konnten, ebenso selten vorkamen, wie solche, die Begriffe wie Diskurs verwenden. Kontrovers diskutiert wurde v.a. das Mondo-Genre, das dokumentarisch anmutende Panoramen bizarrer Exotik präsentierte. In Filmen wie dem namensgebenden „Mondo Cane“ wurden die (u.a. sexuellen) Bräuche sogenannter Naturvölker mit dem Leben moderner Menschen kontrastiert und dabei verborgene Gemeinsamkeiten aufgezeigt.

Je ernsthafter die Erwartungen an die dokumentarische Seite der Filme, umso mehr fällt zwangsläufig ins Auge, dass Mondo-Movies primär der Unterhaltung dienten und in ihrer Stilisierung auf Sensationsbedürfnisse zugeschnitten waren. Die Kommentare aus dem Off im Duktus alter Wochenschauen konnten fesseln und waren doch durchzogen von allerlei oberlehrerhaften Plattheiten. Dennoch machen diese Filme ungemein Spaß, und schnell geht man dazu über, ihre Stärken anderswo zu suchen. Ähnlich den (im Unterschied zu Mondo wieder konventionell erzählerischen) Kannibalenfilmen handelt es sich hier um die letzten großen Abenteuergeschichten – jungenhafte bis pubertäre Fantasien, bei denen auf biedere Sittlichkeit ebenso gepfiffen wird wie auf p.c. Kreativer Selbstzweck waren derbe Szenarien vor kitschigen Urwaldkulissen, in denen rauschhafte Musik all das Anrüchige und Befreiende untermalt, mit dem man die Massen erfahrungsgemäß in die Kinos locken konnte, und sei es unter dem Deckmantel einer fadenscheinigen Reportage. Mondo-Filme waren ein großer janusartiger Mittelfinger, der sich gegen die hartnäckigen Reste eines idealisierten Menschenbildes ebenso richtete wie gegen die latent scheinheilige Verkopftheit einer aufgeklärten Kulturavantgarde, deren Anhänger Jess Franco “those false intellectuals” nannte.

Dem Rauschhaften und Transgressiven zollen auch Cannibal Movie ihren Tribut. Mit ihrem ekstatischen Psychrock, der dionysischer und zugleich monotoner ist als die schöngeistigen Mondo-Scores von Riz Ortolani, versuchen sie erst gar nicht, die Stimmung der Filme eins zu eins in die Gegenwart zu übertragen – als wollten sie in einer Zeit, in der eine solche Sensationsmaschine funktionslos ist, v.a. das Überdrehte hervorheben, das im Retrokontext umso deutlicher werden muss. Aus der versnobten Auskennerperspektive von heute wirken die Ideen hinter diesen Filmen oft exotischer als ihre Schauplätze – schon deshalb bekommt der Titel “Mondo Music”, der ja Weltmusik heißt, eine ganz andere Semantik. Hypnotisches Beckenrasseln, wilde Trommelwirbel und das bedrohlich wirkende Dröhnen einer Orgel haben durchweg die Oberhand und sind, wenngleich untrennbar mit der Epoche verbunden, keineswegs ein Imitat älterer Musik. Ihren bedrogten Melodien haftet etwas Beschwörendes an, sie verbreiten eine ritualistische, okkult anmutende Stimmung, für die man sich beinahe ein Mondo-Revival herbeiwünscht, bei dem die Filme auf den Sound des Duos zugeschnitten sind. Sollte Tarantino jemals über eine Mondo-Hommage nachdenken, dann wäre hier der Score dazu.

Das aktuelle Tape der Italiener enthält pro Seite ein zirka fünfzehnminütiges Stück. Während die erste Seite Ihre perkussive Welterkundung gleich im entfesselten Herz der Finsternis startet, beginnt Seite zwei meditativer und ist erst nach und nach zu einer verhaltenen Steigerung bereit – die gipfelt in einem Plateau aus verwehten Orgelklängen, die in ihrer repetitiven Kargheit die Brücke zum orientalischen Covermotiv schlagen. Ich empfehle zuzugreifen, denn die Stückzahl ist limitiert. Das letztjährige Album dürfte noch irgendwo im Netz zu hören sein, ebenso lohnenswert ist ihr Beitrag zur exquisiten “Occulto”-Compilation.

Label: AVANT! Records/Yerevan Tapes