Fast wundert es, dass der Begriff der Barrikade in der weiten Welt des Post-Industrial nicht häufiger fällt, impliziert er doch eine Mehrdeutigkeit, die sich leitmotivisch durch unzählige Abspaltungen in der Nachfolge von Pionieren wie SPK windet. Man denkt an etwas Kämpferisches, an ein militantes Dagegensein, wenn jemand sprichwörtlich auf die Barrkaden geht. Ebenso radikal negativ, wenngleich auf ganz andere Art, verfährt der Verammelungsfanatiker (Thomas Bernhard), der sich verbarrikadiert und der Welt, der er den Rücken kehrt, ein wütendes „Out Out Out!“ entgegenschreit. Wenige Musikarten verorten ihr Nichteinverstandensein derart im Grenzbereich zwischen eskapistischem Weltekel und harscher Kritik, und dass immer beides eine Rolle spielt, war von Beginn an der wichtigste Unterschied zum Punk.
Normalerweise fällt beim Anschneiden der Entstehungsmythen des Industrial das Kürzel TG. Dass es im vorliegenden Fall drei andere Buchstaben sind, hat mit der musikalischen Ausrichtung des schwedischen Einmannprojektes Barrikad zu tun. Der Gothenburger Musiker hat sich ganz der alten Schule grummeliger, monotoner Klangkollagen verschrieben, bei denen mal der verzerrte Soundbrei, mal sperrige Feldaufnahmen den Hintergrund für die Auslotung unterschlagener Gesellschafts-Aspekte bilden, während ein recht statischer Taktschlag eine Illusion der Kohärenz stiftet. In Barrikads Fall ist der Rückgriff auf alte Ideale der Negation und des Dilletantismus – pathetisch gesprochen – auch eine Suche nach der verlorenen Zeit. Einer Zeit, bevor weite Teile des Industrial ihre kritische Potenz eingebüßt und sich der trotzig-kindischen Affirmation des nur noch Destruktiven, der billigen Provokation und des platten Ressentiments verschrieben hatten.
Barrikad ist – auch biographisch – ein Kind der Punktradition und steht für eine Idee des Industrial, in der Phänomene wie der Situationismus und andere, ebenso radikale Gegenkulturen der ersten Nachkriegsdekaden eine wichtige Rolle spielen – zuungunsten von Szene-Ikonen wie dem wildgewordenen Kleinbürger de Sade und anderen „elitären“ Gestalten, die unter dem Mantel des Nonkonformen im Schnitt verkappte Neoliberale ansprechen. Schon dass der mehrdeutige Titel seiner neuen EP einem der berüchtigtsten Abrissunternehmen westlicher Identität, dem Großmanifest „Mille Plateaux“ von Deleuze und Guattari, entnommen ist, verweist symbolisch in diese Richtung. Angesichts der umfangreichen Liner Notes muss man Barrikad in die Tradition von Leuten wie Penny Rimbaud stellen, die schon Punk weniger als Negation, sondern vielmehr als Fortführung der Gegenkultur der 60er unter veränderten Vorzeichen betrachteten. Mit dem ersten Songtitel auf der EP – mir ist nicht bekannt, ob es sich dabei um ein Zitat handelt – könnte man dieser Traditionslinie die passende Überschrift geben.
Das zirka achtminütige „Freedom is Only Possible in the Struggle for Liberation“ fällt unvermittelt mit der Tür ins Haus – wie ein Störenfried, der plötzlich am Radiosender justiert und das phlegmatische Behagen mit einem ungenießbaren Rauschen zerstört. Das wesentliche Merkmal der Musik ist die Statik des grobkörnigen Soundbreis, an der auch das stressige Pulsieren nichts ändert, das sich ab und an etwas lauter in den Vordergrund drängt. In keinem musikalischen Merkmal steckt hier mehr Gewalt – nimmt man diese hin, gewinnen die kleinen Veränderungen zusehens an Bedeutung: die enervierenden, stets variablen Schleifgeräusche und unerwartete Perkussion, die wie Schritte eines Steinewerfers auf der Flucht anmuten. Unheilvolles Gemurmel entpuppt sich als Echo alter Auseinadersetzungen über Macht, Privilegien und die Angst vor der „Generation von Auschwitz“. Nicht erst der Auftritt Helmut Schmidts und die Erörterung der Landshut-Entführung rufen die einst beschworene „Stammheim Torturekammer“ in Erinnerung.
Was bei all dem besonders überzeugt ist die Tatsache, dass Barrikads dokumentierende Herangehensweise auch ohne ideologischen Zeigefinger ausgesprochen eindringlich ausfällt. Beinahe könnte man meinen, das abrupte Ende des Stücks sei eine Hommage an den unvollendeten Charakter vieler Revolutionen, in welchen Geburtsfehlern oder Dolchstößen man ihr (partielles oder totales, vorläufiges oder endgültiges) Scheitern nun begründet sehen mag. Ist „Freedom“ bereits zu sperrig für die museale Angst Pop-Disco, so ist „Utanför Det Samhälle Jag Tvingas Vara En Del Av“ noch weiter entfernt von dem, was der Industrial-Gruftie von heute unter old school versteht. Die drahtig rumpelnden (und nur minimal bearbeiteten) Feldaufnahmen, die einen schwedischen Textvortrag untermalen, verleihen dem Stück einen hörspielarteigen Charakter und zudem den Anschein uriger Unmittelbarkeit, vorausgesetzt man bemerkt den repetitiven Aufbau der Kollage nicht sofort, der den Realitätseffekt merklich stört. Wer dieses Szenario bereits für den Sound der Sabotage hält, wird durch ein plötzliches Inferno an Detonationen und Geschrei eines Besseren belehrt.
„Through The Voice One Becomes Animal“ hat das Zeug zum Polarisieren. Die einen werden es als alten Wein in alten Schläuchen abtun – und es vielleicht gerade deshalb mögen und in ihre Briefmarken – pardon: Tonträgersammlung aufnehmen. Andere werden einräumen, dass es lange keinen alten Wein mehr gab, und in dieser Musik vielleicht eine lange überfällige Frischzellenkur für eine bräsig gewordene Niesche sehen. Da Barrikad eine Zeit in Erinnerung ruft, in der auch im Industrial Ideologiekritik nicht durch die Hintertür gleich wieder in neuer Ideologieproduktion münden musste, hoffe ich, dass die zweite Gruppe nicht allzu klein ist. (U.S.)
Label: Exlibris Nordén/Nil By Mouth