Das Zeitalter der Retromanie, das testcard schon in den 90ern ausrief, brachte neben anderen Stilblüten auch das Phänomen der radikalen Drosselung hervor, bei der der Zugriff auf historische Musikstile in Zeitlupe erfolgt, was beim fertigen Resultat dann meist sehr cool und trocken klingt. Nicht wenige Hardcore-Kapellen mutierten im Zuge dessen zu Doom-Acts, und dass man nahezu jede Musikart durch Langsamkeit dekonstruieren kann, bewiesen mehr noch als die Herunterpitcher der Witch House-Fraktion die italienischen Surfrocker Heroin In Tahiti, die wie Link Wray auf Benzos klingen. Es gibt in dem Kontext keinen wichtigeren Namen als Bohren & der Club of Gore, die gerne als die langsamste Jazzcombo der Welt bezeichnet werden, und bei deren Songs man, einem anderen Klischee zufolge, zwischen jedem Taktschlag einen Espresso kippen kann.
Die Wurzeln des Mühlheimer Quartetts liegen im Hard- und Grindcore ebenso wie in der nerdigen Leidenschaft für Genrefilme aus besseren Zeiten. Was sie selbst, neben ihren stilvollen Klanggebilden, in die Welt gesetzt haben, ist die Grundsteinlegung des sogenannten Doomjazz, den viele (vielleicht nicht ganz zu Unrecht) als genregewordene Hommage an zwei Nummern Angelo Badalamentis betrachten. Ich weiß nicht, ob man hier Freuds Theorie des Unheimlichen aus der Kiste kramen muss, aber die besondere Stärke der Band war stets die stimmige Zusammenführung unbehaglicher Düsternis und anheimelnder Entspanntheit. Etwas vereinfachend könnte man die abgründige Seite den ambienten Klangflächen und dem coolen Bassspiel zuordnen, während Mellotron, Vibrafon, Fender Rhodes und mittlerweile auch ein klassischer Konzertflügel für den wohligen, betont kitschigen Gegenpart sorgen. Verknüpft wird dies dann durch den breiten Pinselstrich eines gedämpften Saxophons, der in allen fatalistischen Farben schillert. Auch in den anspielungsreichen Songtiteln wechselt sich smooth und scary in staubtrockener Ironie miteinander ab. Man nennt das Ganze dann Protestsongs gegen die Teilnahmslosigkeit.
Der jüngst erschienene Longplayer “Piano Nights” spielt im Großen und Ganzen auf dieser vertrauten Klaviatur, wobei der (diesmal eher schmusig anmutende) Titel schon der Tatsache Rechnung trägt, dass das besagte Gegensatzpaar in den letzten Jahren zugunsten des Schönen etwas aus der Balance geraten ist. „Im Rauch“, der erste von neun Downern, lässt vertraute Bilder entstehen, die hallunterlegte Keyboardfläche ist so heimelig-unheimlich wie eine nächtliche Spazierfaht über den Mulholland Drive, und spätestens wenn sich der Jazzbesen und die Brass Section dazugesellen, stellt sich mir einmal mehr die Frage, weshalb so viele in Bohrens Musik etwas Negatives, Deprimierendes heraushören wollen, aber vielleicht haben sie zu den ultraentspannenden Klängen ja nur das Falsche geraucht. In der Folge wechseln sich molllastige, dick aufgetragene Bläsernummern („Fahr zur Hölle“) ab mit derangierten Momenten („Verloren(Alles)“), aber auch mit verspieltem Phlegmatismus („Bei Rosarotem Licht“), der für Momente fast Züge herkömmlicher Barmusik annehmen kann („Irrwege“). Am hervorstechendsten ist „Segeln Ohne Wind“, bei dem die Musik auch schon mal lauter und rauer wird, fast könnte man „dynamisch“ sagen, klänge das bei Bohren nicht so absurd.
Und das Piano – ist tatsächlich ab und an zu hören, fügt sich allerdings recht nahtlos wie alle anderen Ingredienzien ins musikalische Gesamtbild ein. Ebenso trocken wie Bohren selbst zu Werke gehen, sollte man also feststellen, dass auch fünf Jahre nach „Dolores“ und drei Jahre nach „Beileid“ alles Wesentliche beim Alten geblieben ist, und dass das in Ordnung geht.
A. Kaudaht
Label: PIAS