NOVÝ SVĚT: Doce

Nový Svět, die beiden Wiener mit ihren schrägen, meist auf Spanisch gesungenen Gassenhauern, galten zeitlebens als Rarität, als Auskennerding, als von wenigen gehüteter Schatz, und doch waren sie eine der wichtigsten Bands im vergangenen Jahrzehnt, nahmen vieles vorweg und versahen ebenso vieles mit einem treffenden, doppelbödigen Kommentar. In den Industrial- und Folk-Nischen, in denen sie wohl doch noch am meisten wahrgenommen wurden, nisteten sie sich nur für kurze Zeit ein, stellten dort die wichtigsten Selbstverständlichkeiten auf den Kopf, um kurz darauf zu ihrer Tour durch ungezählte musikalische Möglichkeiten aufzubrechen. Was immer Jürgen Weber, Ulla Tost und ihre temporären Mitstreiter an Klängen und Stimmungen für ihre Vision fruchtbar machten, behandeten sie mit einer Mischung aus Liebe und Respektlosigkeit. Simon Reynolds Buch „Retromania“ ist nichts als eine übergewichtige Fußnote zu ihrer Single „A Mort“ – einem liebevollen Abgesang an den klassischen Rock, den der Autor natürlich nie zu hören bekam.

Ihr „Ableben“ als Band kündigten Nový Svět mehrfach an, und 2008 schien es dann so endgültig, dass man fast meinen konnte, es hätte sie nie gegeben, wären da nicht die vielen Echos aus den Archiven gewesen, die Jahr für Jahr dann doch noch ihren Weg auf Tonband oder Vinyl gefunden hatten. Sollte ihr Image als obskure Band das Ergebnis einer Inszenierung sein, dann geschah dies aber auf subtile Art, denn in seinen zahlreichen Statements trat Jürgen Weber nie als Geheimniskrämer auf, zeigt sich im Gegenteil beredt im Hinblick auf Pläne und Reflexionen. Dennoch umgab die Band auch schon vor dem Rückzug aus der Öffentlichkeit etwas Enigmatisches.

Das vielleicht profanste Beispiel dafür ist die häufig geführte Diskussion um den musikalischen Ort Nový Světs. Konnte man sich ganz zu Anfang noch auf die merkwürdig noisige Dekonstruktion eines entschleunigten Europop einigen, fand man sich bald in einer Art Hase und Igel-Spiel wieder, bei dem die Band stets früher genau da war, wo man sie nie vermutet hätte und wo sie dennoch perfekt hinpasste. Für Momente. Auf Rezipientenseite resultierte das dann oft in einem exzessiven Termdropping um Electronica, Folk, Chanson und etliche Begriffe mehr, die immer irgendwie gestimmt haben und doch kaum von Belang waren. Interessantere Rätsel ranken sich bis heute um das nie erschienene Album aus dem “Desde Infiernos de Flores”-Zyklus, das die iberische Phase abgeschlossen hätte, dessen Material allerdings nur zum Teil auf zwei MCDs erhältlich war. Viele vermuten, dass dieses Werk das Beste, wenn nicht gar die Essenz der Band beinhaltet – sollte dem so sein, dann ist das Zurückhalten der Veröffentlichung über die Magie des Geheimnisses hinaus der beste Schutz gegen die eigene Musealisierung und schafft als Leerstelle eine Offenheit, gegen die kein noch so “finales” Album ankommt, mag es auch “fin.finito.infinito” oder “Todas las Ultimas Cosas” heißen.

Rückblickend mutet der Werdegang fast romanhaft an – wie eine (pikareske? mystische?) Suche, bei der man kaum um die abgedroschene Weisheit herumkommt, dass die Spuren, die die beiden unterwegs hinterlassen haben, das eigentliche Ziel der Odyssee waren. Seit “Cuori di Petrolio”, das verhalten groovige Reminiszenzen an ein jahrzehntealtes, mondänes Europa enthielt, v.a. aber seit dem drogenschwangeren “Chappaqua” haftet ihrer Musik eine Aufbruchstimmung an, die das Gedämpfte, Entschleunigte, das nie vollends aus der Musik verschwand, fast vergessen machte. Ein Pop Art-Gestus, wie er der Post Industrial-Gemeinde, von der die beiden sich schon optisch fast demonstrativ unterschieden, fremd war, fand sich fortan auf allen Veröffentlichungen. Die Klänge wurden verspielter, die Schriftzüge der Cover geschwungener, und als dann plötzlich die kühl elektronischen „Ultimas Cosas“ in den Regalen standen, war das fast schon ein etwas zu hastig geschlossener Kreis.

Mittlerweile häufen sich immer mehr die Gerüchte, dass es für Nový Svět wohl doch so etwas wie eine musikalische Gegenwart gibt. Neben einem weiteren Ambienttape aus dem Archivkeller, einer (medial leider untergegangenen) Split 7” mit Susa24 und der angekündigten Single mit Spettro Family ist auch die vorliegende Compilation namens „Doce“ ein hoffnungsfroh stimmendes Omen. Das Gros der zwölf Stücke ist älteren Datums und zum Teil vergriffen, ein Stück ist vollends exklusiv. Abgedeckt werden beinahe alle Schaffensphasen, wobei der Schwerpunkt eher auf dem songorientierteren Output liegt. Vertreten sind einige der bei den Fans so beliebten Akustikballaden, wobei der Schmachtfetzen „Amore, Amour, Amor“ hervorgehoben werden muss, der dem Sampler „Flies in Dreams and Reality“ damals den I-Punkt verpasste. Stets gab es Songs von scheinbar frohsinniger Natur, die fast immer einen doppelten Boden hatten – hier vertreten sind das karousellartige „Titan“ und der Spelunkenhit „Marlene“, der zu den weniger sperrigen Momenten auf dem unerreichten „Chappaqua“-Album zählt. Tief melancholische Songs wie „Espina“ und der Titeltrack des „fin.finito.infinito“-Albums bilden dazu den Gegenpart.

Auch der weniger „folkige“ Teil des Samplers dringt nicht in die unwegsamsten Bereiche der Nuevo Mundo vor, ebenso wenig in den Lofi-Sound des latent punkigen „Nuevo Babylon“ oder der frühen Aufnahmen, bei denen das „Authentische“ vermutlich eher den damals noch begrenzten Möglichkeiten geschuldet war – dem am nächsten kommt noch das schwerwiegende „Punished with Longing“ vom Benzinherzen-Album. Die hier vertretene (und live anmutende) Neuaufnahme von „Ninos de la Bola“ (original auf „Faccia a Faccia“) zählt allerdings zu den Höhepunkten. Selten klang Webers immer etwas testosteronschwangere Whiskey und Tobak-Stimme derart leidend und mitreißend, doch vom Phlegma der ursprünglichen Version ist kaum etwas übrig. Das Scratchen und der verquere Beat der Grime-Nummer „Juntos“ mag hier wie ein Sonderweg anmuten, im zeitlichen Kontext jedoch war das genau Nový Světs Ort, und auch bei „Yo No“ erscheint mir der tanzbare Takt und das sanguinische Dubstep-Feeling kaum unpassend. Der Song entstand 2010 und war wohl ursprünglich für eine Compilation geplant und erscheint stattdessen hier als einzig komplett neuer Beitrag.

Ob zukünftige Releases in diese Richtung gehen werden, und wie viele das sein werden? Man darf gespannt sein, und sollte doch nicht zu sehr spekulieren und “puro rumore” verbreiten. Nový Svět waren immer schwer einzuschätzen und werden (wird?) das auch in Zukunft sein, weswegen sich jedwedes Deuteln verbietet. Ein gutes Omen ist „Doce“ dennoch (U.S.)

Label: Kill Shaman