CURRENT 93: I Am The Last Of All The Field That Fell

Current 93 war von (An)Beginn immer ein Vehikel für David Tibets Obsessionen, künstlerischer und vor allem spiritueller Art. Daraus folgte vielleicht unweigerlich, dass Ideen und später dann die Worte und Wörter im Mittelpunkt standen, gerade da Current 93 eben keine Band im herkömmlichen Sinne war/ist, sondern vielmehr ein loses Kollektiv um den Fixstern Tibet. Dabei haben die immer umfangreicher werdenden Texte – die vielleicht der in den letzten Jahren stärker gewordenen kosmischen Perspektive („And did you call the night ‘bright’/And drink the sex of stars?“ wird auf dem letzten Stück gefragt) Rechnung tragen sollen – dazu geführt, dass ein Singen – das es bei Current 93 sowieso nie im herkömmlichen Sinne gegeben hat – noch stärker einem Rezitieren gewichen ist. Gab es z.B. auf „Black Ships…“ trotz des umfangreichen Konzepts noch Stücke, die in gewissem Maße (eine konventionelle) Songstruktur hatten – „Sunset“ oder „Then Kill Caesar“ etwa-, so kann man das für das neue Album nur sehr bedingt sagen. Insofern dürfte das nach einem unveröffentlichten Gedicht John Clares benannte Album kaum dem Gelegenheitshörer gefallen, keinem der nach catchy tunes sucht – was aber sicher nicht gegen das Album spricht oder sprechen sollte.

Tibet hat in den Jahren öfter von seinem Wunsch nach Simplizität gesprochen, zumindest musikalisch ist das der Fall, denn trotz vieler Musiker (insgesamt 14 Personen waren an „I Am The Last Of All The Field That Fell“ beteiligt, wohingegen das Myrninerest-Album von Tibet lediglich zusammen mit James Blackshaw, der hier kurz am Bass zu hören ist, eingespielt wurde) sind die einzelnen Stücke primär um das Klavierspiel des neuen Pianisten Reinier van Houdt zentriert. Der verhältnismäßig ruhige Opener ist noch recht opulent instrumentiert: „The Invisible Church“ kombiniert Klavier mit dem Akustikgitarrenspiel von Groundhogs’ Tony Mc Phees (dessen „Sad Go Round“ Tibet auf der „Lucifer over London”-12′ gecovert hatte), Schlagzeug, an dem hier Carl Stokes zu hören ist und der Bassklarinette von Joe Seagrott (der nach der Reunion Rob Young bei Comus ersetzt hat). Die Backingvocals der scheinbar ewig jugendlichen Bobbie Watson erinnern an Rose Mc Dowall, deren Gesang auf früheren Current 93-Alben wiederum ohne Comus kaum denkbar gewesen wäre. Das darauf folgende„Those Flowers Grew“ ist dramatischer, hier hat Tibets Vortrag wie schon auf früheren Alben einen unglaublich intensiven, fast manischen Charakter, was durch John Zorns Saxophonspiel und Tony Mc Phees E-Gitarre noch unterstrichen wird. Diese Art des Vortragens wird auf „And Onto PickNickMagick“ noch deutlicher und dies macht ein Nebenbeihören und letztlich Indifferenz eigentlich unmöglich. „The Heart Full of Eyes“ hat einen etwas stärkeren Rockcharakter, hier stehen die Gitarrenriffs gleichberechtigt neben dem Klavier– etwas, das auch einigen der anderen Stücken bei der Aufführung des Albums in London gut zu Gesicht stand. „Spring Sand Dreamt Larks“ bekommt durch Zorns durchdringendes Saxophon ebenfalls etwas Unruhiges, Getriebenes. Zurückhaltender ist ein Stück wie das von melancholischem Klavierspiel bestimmte „With the Dromedaries“, das nur gegen Ende eruptive „Kings and Things“ oder aber das nachdenkliche „Why Did The Fox Bark?“. Etwas aus dem Rahmen fällt das beschwingte „I Remember The Berlin Boys“, das mit seinen knapp vier Minuten der kürzeste Track ist. Antony, dessen Arbeiten der letzten Jahre mir manchmal etwas zu glatt waren, beweist auf „Mourned Winter Then“ (lediglich von Klavier begleitet), warum der Legende nach Lou Reed geweint hat, als er ihn zum ersten Mal singen hörte. Wenn er manche der Zeilen fast atemlos vorträgt, dann meint man wahrlich, die im Text genannten „angelic yells“ zu hören. Abgeschlossen wird das Album von dem von Nick Cave gesungenen „I Could Not Shift The Shadow“, einer ruhigen Klavierballade, die das Album zurückhaltend ausklingen lässt. Zwischen einzelnen Stücken hört man immer wieder den für seine selbst so betitelten „apocalyptic visual parables” bekannten Dichter, Maler, outsider artist Norbert Cox.

Die Texte sind erneut eine Apotheose einer (Privat)Mythologie, deren Referenzen, Anspielungen und Bildlichkeit nur noch partiell zu dekodieren ist. Wie auch auf den Arbeiten der vergangenen Jahre findet sich eine Gegenüberstellung von Sakralem und Profanem: Gary Glitter, Strichcodes, Saulus, Paulus und das Jüngste Gericht treffen in „Those Flowers Grew“ alle aufeinander. In seiner Studie The Lyre of Orpheus postuliert Christopher Partridge in einem etwas anderen Zusammenhang, dass sich „[t]he sacred-profane ambiguity“ in den Arbeiten Current 93s zeige. Es finden sich auch immer wieder intertextuelle Referenzen auf die Alben der letzten Jahre: so tauchen „ships in the sky“ auf, der bellende Fuchs verweist auf „Aleph…“, man findet sich erneut im „Baalstorm“, während „SunFlower“ und „Queendom“ an den Vorgänger „Honeysuckle Æons“ erinnern. Ebenfalls wird wieder wie schon zuvor (ein frühes Beispiel wäre Nature and Organisations „Bloodstreamruns“) die eigene (als fehlerhaft) betrachtete Vergangenheit thematisiert. Auf „I Remember The Berlin Boys“ heißt es: „the Nodding God span webs/In the distance“, „The message is I ran evil“, „When I was young in body/But old in soul/Now older and in vice“.

Das Arbeiten mit partieller Homophonie („mews/noose“, „diseased and deceased“), das teils (vermeintlich) Assoziative, die Gegenüberstellung scheinbar konträrer Bilder und Themen weisen (literaturgeschichtlich gesehen) modernistische Züge auf. Ich habe früher schon auf Parallelen zum expressionistischen Reihenstil hingewiesen. Seine Erschaffung eines eigenen und eigenständigen mythologischen Systems erinnert aber auch natürlich an einen anderen Autoren, der konstatierte, er müsse (s)ein eigenes System schaffen, um nicht von einem anderen versklavt zu werden. Und wenn man Formulierungen wie „The field of bled woods“ oder „When we are naked as bone“ hört, entstehen Bilder, von denen man eigentlich nicht unberührt bleiben kann, die einen aufs Tiefste anrühren.

Ein Album von Current 93 ist oftmals eine Offenbarung – das kann, muss man aber nicht theologisch lesen – man kann es auch rein profan verstehen.

M.G.

Label: The Spheres