Interessanterweise waren es v.a. deutschsprachige Denker, die seit dem 19. Jahrhundert dem Gefühl des modernen Subjekts, in einem entmenschlichten Verwertungszusammenhang gefangen zu sein, in markanten Schlagworten Ausdruck verliehen haben. Nicht nur werden die Zumutungen monotoner Arbeit und auf Konsum gründender Heilsversprechen als stählernes Gehäuse (Max Weber) betrachtet, früh wurde zudem beobachtet, wie sehr das alltägliche Räderwerk dem Einzelnen zur zweiten Natur (Lukács) wurde. Schon bald wähnte sich der Mensch in seinem fatalen Verblendungszusammenhang (Adorno) nicht mehr nur in einer normalen, sondern in einer durchaus schönen neuen Welt, deren Raubbau an Mensch und Natur als unvermeidliche Gegebenheit abgehakt werden konnte – so ist es nun mal, deal with it. Er fiel sozusagen in eine Art Traumschlaf (Benjamin). Heidegger sprach in diesem Zusammenhang von einem Gefühl der Benommenheit und verweis damit auf den phelgmatischen Aspekt jener Betriebsblindheit, mit der wir unsere Existenzweise als alternativlos erachten.
Dass in New York ansässige russischstämmige Projekt Post Scriptvm ließ sich von Heideggers Begriff zu seinem aktuellen Album inspirieren, das – wie Mastermind Andrej in einem Interview sagte – die Biografie eines fiktiven Everyman unserer Zeit wiedergibt. Dass das Album einen stark episodisch-fragmentarischen Charakter aufweist, mag bei dem Sujet nicht überraschen. Dass der Fokus dabei fast ausschließlich auf der Gefühlswelt mit ihren vagen Stimmungen liegt und die äußere Welt allenfalls in Form verzerrter Eindrücke zur Sprache kommt, ahnt man nur, wenn man bereits mit dem Werk Post Scriptvms vertraut ist. Wenn es außer dem ausschnitthaften Kollagencharakter noch ein zweites Merkmal gibt, dass für „Benommenheit“ typisch ist, dann ist es die Tendenz, Themen und Motive nur unterschwellig anzudeuten und bei aller Drastik seine musikalischen Strukturen nur kurz und meist indirekt aufscheinen zu lassen. „Benommenheit“ ist subtil und ungreifbar und fordert eine gewisse Konzentration, um intensiv erlebt zu werden.
Ist man dazu bereit, erkennt man auch in der omenhaft „Horrorbirth“ betitelten Exposition, in der Statik ihres wellenförmigen Dröhnens, sehr viele Details, die sich permanent anschicken, zu einer greifbaren Form zu verschmilzen, die am Ende doch nur schemenhaft vorhanden ist. Ähnlich wie beim Vorgängeralbum „Grey Eminence“ hat man auch hier beim ersten Hördurchgang die Assoziation eines weiträumigen Gebäudes, in dem sich am Ende jedes Tracks die Tür zu einem neuen Raum öffnet, doch mit der Zeit bemerkt man, dass die einzelnen Stücke viel unverbundener sind, so als wäre jedes Stück eine weiträumige Halle für sich, mit unbekanntem Zweck und wie dafür gemacht, sich darin zu verirren.
Trotz einer desolaten Grundstimmung ist die hier nachgezeichnete Lebensreise nicht arm an Schönheiten. Von den lieblichen (und keineswegs ironisch anmutenden) Glöckchen im Opener über die geschliffenen Noisefragmente in „W.A.L.S.C.H.“ und „Faces Like Masks“ bis hin zu den Gesangspassagen kurz vor dem Ende zeigen Post Scriptum, dass der Tagtraum der Benommenheit durchaus Genussmomente bereithält. Ein Grund zur Entspannung ist das dennoch kaum, denn hinter jeder zweiten oder dritten Ecke lauert das Monströse und holt den (unbenommenen?) Hörer zurück auf den Betonboden der Post Scriptum-Welt. Die psychedelische Orgel in „Clinging on like Grim Death“ kündet allenfalls von einem bad trip und das Piano in „Eerie Cargo“ ist ungefähr so anheimelnd wie sein Pendant in Current 93s „Ach Golgatha“.
Ein Fazit wäre, dass „Benommenheit“ ein reichhaltiges und spannendes Album ist, aber das ergibt sich bereits aus der Beschreibung. Es ist jedoch auch ein gewollt distanziertes und sperriges Werk, an dem man sich den einen oder anderen Zahn ausbeißen könnte. (U.S.)
Label: Tesco