Ist es eigentlich anmaßend, sich in der Fantasie auszumalen, welche Werke ein Künstler, den man schätzt, noch geschaffen haben könnte, vorausgesetzt, er wäre noch produktiver gewesen, hätte sein Spektrum erweitert oder einen generell anderen Weg eingeschlagen? Ich denke, es ist v.a. eine recht kreative Art, sich von einem fremden Werk beflügeln zu lassen, nicht unähnlich der Reaktion desjenigen, der mit einem eigenen Werk in die Fußstapfen eines Idols tritt. Vinz von Il Ballo Delle Castagne (vormals ohne Artikel und sein Folgeprojekt nach Calle Della Morte) hat im Hinblick auf Werner Herzog beide Varianten miteinander kombiniert – auf dem neuen Album seiner Psychrock-Combo finden sich sechs Kompositionen, die als Teile eines fiktives Soundtracks gedacht sind zu einem Film, den der bekannte Regisseur nie gedreht hat.
Ein komplett Herzog gewidmetes Album, bei dem auch der Name Popol Vuh in einem der Titel vorkommt, überrascht bei Il Ballo gar nicht mal so sehr, tauchte sowohl der Filmemacher als auch die deutsche Band, die mehrfach Musik zu seinen Filmen komponierte, bereits im Werk der Italiener auf. Popol Vuh freilich nur als Vergleichsreferenz, denn mit ihren Kompositionen zwischen Rock und sakralen Klangtexturen ist da durchaus eine gemeinsame Tradition vorhanden. Dafür war Herzog mit seiner Tibet-Doku „Rad der Zeit“ bereits ein unmittelbarer Stichwortgeber für das Konzept-Album „Kalachakra“.
Der fiktive Film scheint der Musik und den Titeln nach an einem Schauplatz zu spielen puttygen download , der bei dem Regisseur bislang keine Rolle spielte, nämlich der Nahe und Mittlere Osten, oder genauer der Raum vom Heiligen Land bis hinüber nach Indien, wie Titel namens „Pianto di Cristo su Gerusalemme“ und „Profumi D’Oriente“ und die betörenden Sitarklänge in einigen Stücken nahelegen. Da gerade die nach dem indischen Subkontinent klingenden Details eher in der zweiten Hälfte vorkommen, mag man vielleicht auf eine Doku über den u.a. im Islam gegpflegten Mythos eines ungekreuzigten und im hohen Alter im Kaschmir gestorbenen Jesus von Nazareth kommen – und dass das „nur“ Spekulation ist, sollte bei einem solchen Konzept nicht einschüchtern.
Musikalisch gibt sich die Band so athmosphäisch wie eh und je, wobei die rockigen Elemente, die v.a. in den ersten Alben eine dominante Rolle spielten, eine ganze Spur heruntergefahren werden zugunsten eines eher „klassischen“ Klangbildes, bei dem neben der erwähnten Sitar vor allem ein Cembalo und akustische Saiteninstrumente hervorstechen. Man mag da freilich an die Dark Folk-Wurzeln einiger Bandmitglieder denken. „In the Garden of Popol Vuh“, das mit seinen verwucherten, floralen Klangornamenten an einen Irrgarten denken lässt, könnte auf den ersten Eindruck beinahe ein verlorener Song der deutschen Band sein, doch der Sopran der Sängerin gibt dem Stück eine ganz eigene, leicht renaissancehafte Note, erinnert an frühe Opern und zugleich an deren Nachhall in „neoklassischer“ Musik unserer Tage.
Das darauffolgende „Lentus in Umbra“ ist über weite Strecken statischer, bewegt sich wenn eher tastend voran und lebt von vielen Brüchen und von sensibel eingesetzten spacigen Sounds. In den folgenden Stücken ist der vorderasiatische Raum dann allgegenwärtig, vermischen Sakrales und dezente Rockelemente mit den Klängen eines geheimnisvollen Orients, die v.a. dann ihre richtige Wirkung erzielen, wenn man sich keine allzu schöngeistigen Bilder dazu imaginiert. Die feierlichen Spoken Words machen, wenn man des Italienischen nicht mächtig ist, einmal mehr gespannt auf die dahinterliegende Geschichte. Durch solche Motive entsteht ein fesselndes Narrativ, bei dem sich die imaginierten Bilder schnell im Rhythmus der Musik zu bewegen beginnen – sei es in Form gut abgestimmter Schnitte oder durch die Choreografie der Akteure.
Ganz nebenbei sollte man ergänzen, dass Il Ballo Delle Castagne und erst recht die beteiligten Musiker lange vor den Zeiten von Bandcamp und Soundcloud eine Musik gespielt haben, die man heute gerne mit dem recht weit gefassten Schlagwort Italian Occult Psychedelia umschreibt, ob diverse hippe Gazetten dies nun wahrnehmen oder auch nicht. (U.S.)
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