V.A.: All My Sins Remembered. The Sonic Worlds of John Murphy

John Murphy war in vielem eine Ausnahmefigur. Er war einer der wenigen Pioniere des Industrial, die dieser Musik ihr Leben lang die Treue hielten und dennoch in ihrem Output eine enorme Vielseitigkeit an den Tag legten. Als Drummer früh am Jazz geschult, entdeckte er in den 70ern Punk und dessen Folgeerscheinungen und gab den vielen noisigen Bands, denen er sich später anschloss, ein freies, improvisationslastiges Gepräge. Als Studio- und Livemusiker für folkige Bands hatte er ein Händchen nicht nur für Reduktion, sondern auch für ein luftiges Spiel mit den Cymbals, das nötig ist um das leichte Klanggewand akustischer Musik nicht zu ruinieren.

Als mit zahlreichen Effekten vertrauter Soundmagier in Soloprojekten und zahlreichen Bands war er, wie der Kurator der vorliegenden Compilation sagt, ein „Master of Sonic Chaos“, dessen Kompositionen keine Struktur akzeptieren und einem ständigen Gestaltwandel unterliegen. Eine weitere, oft unterschlagene Facette ist John als Vokalist, und in besonderen Momenten griff er sogar zur Gitarre.

Aber auch als Mensch war Murphy eine Ausnahmefigur. Trotz all seiner Errungenschaften hätte ihm alles Pratentiöse, das in der Musikwelt so weit verbreitet ist, nicht fremder sein können, seine unzähligen Kollaborationen, über die man ein dickes Buch schreiben könnte, suchte er stets nach Sympathie und gemeinsamen (musikalischen und in späteren Jahren vielleicht auch spirituellen) Interessen aus, nie nach Prestige-Kriterien. Auf seine freundliche, ruhige und zugleich humorvoll-kauzige Art weisen Alan Bamford, Andrew King und Jon Evans, drei Freunde und Weggefährten aus unterschiedlichem Lebensphasen, gleichermaßen in ihren im Booklet abgedruckten Erinnerungen hin.

Die Idee zu dem Sampler „All my Sins Remembered“, der nach einem Shining Vril-Stück benannt ist, kam Stefan Hanser vom Epicurean-Label noch vor Johns Tod im letzten Oktober. Damals hatte er den Plan, mit dem Erlös einen Teil zu den großen Kosten für seine verschiedenen medizinischen Behandlungen beizutragen. Es kam jedoch anders, und John verstarb früher als erwartet, und so gehen sämtliche Einnahmen an Johns Witwe Annie, um sie beim Begleichen zahlreicher mit Johns Krankheit auftauchender Kosten zu unterstützen.

Wie im Booklet ausgeführt war die Trauer um John groß und ein Nebeneffekt war, dass es für eine Zeit und vielleicht auch ein bisschen nachhaltig zu einem spürbaren Gemeinschaftsgefühl zwischen ganz unterschiedlichen Freunden und Fans kam. Schnell fanden sich Musiker, die gemeinsame Tracks mit John, teils unveröffentlicht und oft vergriffen, sowie ein paar extra aufgenommene Hommagen beisteuerten. Die folgende Beschreibung soll dem Anlass entsprechend gar nicht als Rezension im Sinne einer kritischen Bewertung verstanden werden.

Die Sammlung aus Tracks von, mit und für John ist auf drei CDs verteilt und folgt grob einer chronologischen und stilistischen Anordnung, wobei keinem der beiden Kriterien sklavisch gefolgt wird. Die erste CD, auf der John schwerpunktmäßig als Drummer zu hören ist, deckt die 70er und frühen 80er Jahre ab und somit die beiden Zeiträume in Australien und die erste Zeit in London, eine Ära, in der das Gros im Zeichen von Punk, Post Punk und frühem Industrial steht. In diese Zeit fällt dann mit SPK eine seiner bekanntesten Bands überhaupt, von denen eine hypnotische Liveversion von „The Sandstorm Method“ vertreten ist. Ein besonderes Juwel ist Mandrix, seine psychedelisch angehauchte Rock-Band aus Schülertagen, von denen ein neu gemasterter Live-Track mit deftigen Drumsoli Johns erstmals einem größeren Publikum zugänglich gemacht wird.

Der Rest ist eine gute Mischung aus bekannten und weniger bekannteren Zusammenarbeiten, aus Australien sind dies NEWS mit einer trotzigen Uptempo-Punk-Nummer und die u.a. mit Sänger Ollie Olsen betriebenen Projekte WhirlyWirld, Hugo Klang und Orchestra of Skin and Bone, die sich mit treibender Perkussion und exzentrischer Aura jeder Genrezuweisung entziehen. Zudem SLUB mit Johns lärmigem Gitarrenspiel und Dumb and the Ugly, die Jahre später die (inhaltliche wie personelle) Brücke zu seiner Schülerband schlagen. Zuguterletzt dann ein bisher unveröffentliches Stück seines Krang-Projektes als Beispiel für Johns Händchen für chaotische Klangeffekte. Aus der frühen Londoner Zeit finden sich beispielhaft für die (relativ) poppige Seite The Associates, fürs Grobe dann Whitehouse mit einer improvisierten Livedarbietung von 1982, die damals als Electro Pop angekündigt werden musste, um überhaupt stattfinden zu können.

Auf der zweiten Scheibe, deren Beiträge zeitlich ab Mitte der 80er angesiedelt sind, stehen Spielarten des postindustriellen Lärms im Zentrum, wie man sie nach dem Ende der klassischen Zeit kennen sollte. In einer ganzen Reihe an Tracks ist John primär für Synthies, Samples, Tapes und Effekte zuständig, die Bandbreite reicht von wuchtigen bis düsteren Kollagen (Browning Mummery, Sooterskin Flesh) und dunklen, teils sleazigen Traumsequenzen (MAA, Bordel Militaire) bis hin zu derbem Powernoise (Wertham) und den längst zu seinem Markenzeichen avancierten Klangstrudeln (Vhril, Krank, The Walking Corpses und die Live-Aufnahmen von The Grimsel Path und My Father of Serpents & the Disciples of None).

Die starke Rhythmussektion verkörpert er wiederum im rituell hypnotischen Beitrag von Gerechtigkeits Liga. Besondere Hervorhebung verdienen die Tracks mit Johns energiegeladenen Vocals wie das tonnenschwere „Pure“ von Lustmord lange vor deren Ambientphase und die launige Anton LaVey-Interpretation mit Blood & Iron, seiner Band mit Landsmann Bain Wolfkind. Eine exklusive Hommage für dieses Tribute steuern Genozide Organ bei, die ihre gewohnte Aggressivität nur unterschwellig durchscheinen lassen und ein unheimliches, metallenes Schaben in den Vordergrund stellen, das John, so behaupte ich mal, gefallen hätte.

Klischeehaft gesprochen deckt die dritte CD den Neofolk-Teil von Johns Werk ab, genau genommen ist allerdings kein einziger typischer Neofolk-Song vertreten, dafür aber eine Reihe an soundscapigen Stücken mit (neo)folkigen Anleihen. Dazu zählen die exklusiv für diese Sammlung aufgenommenen Beiträge von Of The Wand And the Moon und Die Weiße Rose, ferner Foresta di Ferro und Andrew King, der sich mit seinen Kirlian Camera-Cover, das Drumparts von John und Aufnahmen vom Ort seines Todes enthält, schon recht weit von jedem Folk entfernt. Die songorientiertesten Beiträge sind das postpunkige Naevus-Stück sowie ein Klassiker von David E. Williams – da John selbst das Stück einmal gecovert hat, montierte Williams Spuren dieser Version ein, so dass daraus ein interessantes Duett entstand.

Recht straight am Schlagwerk ist John zu hören im bis dato unveröffentlichten „Long March“ von KnifeLadder und in einer Liveversion des vielleicht bekanntesten Blood Axis-Stücks nebst Intro. Rituelle Live-Aufnahmen mit John an Zither und Perkussion gibt es jeweils zu hören von Nikolas Schreck und Zeena Schreck, zwei weitere Höhepunkte bilden der von bizarren Sounds durchdrungene Song von Johns später Hauptband Last Dominion Lost (ganz groß Johns “hexige” Vocals im Duett mit Jon Evans) und – als wahres Juwel und mein persönlicher Favorit – das Scott Walker-Cover „Bouncer See Bouncer“, dem John als Shining Vril ein leicht an die mittleren Coil erinnerndes Klanggewand verpasst.

„All my Sins Remembered“ enthält alle Soloprojekte und Bands, in denen John im Laufe der Jahre ein festes Mitglied war, sowie einen Großteil seiner sporadischen und einmaligen Kollaborationen. Natürlich fehlt der eine oder andere, der entweder nicht zu erreichen war oder kein passendes Stück zur Hand hatte – von etwaigen Verschwörungstheorien, man hätte aus persönlichen Gründen bestimmte Musiker gezielt ausgeschlossen, sollte man absehen.

In allererster Linie ist diese Compilation ein Ausdruck der Dankbarkeit und der Erinnerung an einen vielseitigen Menschen, den viele der teilnehmenden Musiker als Freund betrachten. Gerade die Vielseitigkeit der Beiträge macht den Sampler aber auch zu einem interessanten Abriss über ein Stück Geschichte subkultureller Musik – John war alles andere als ein klar rubrizierbarer Szenemusiker, der Industrial oder Folk nach bekannten Strickmustern gespielt hätte. Stets interessierte ihn der musikalische Dialog mit denen, die bereit waren Grenzen beiseite zu schieben und Ungewohntes zu wagen. Sie hätten kaum einen besseren finden können. (U.S.)

Label: The Epicurean