In einem Gewirr verschiedener Kanäle am Stadtrand von Mexico City liegt die Isla de las Muñecas oder Puppeninsel, ein moorastiges, von Dickicht bewuchertes Eiland, auf dem unzählige grotesk entstellte Spielzeugpuppen an Bäumen und Sträuchern hängen. Hintergrund dieses seltsamen Kultes ist die Legende um ein Mädchen, das auf dieser Insel in den 50er Jahren ertrunken aufgefunden wurde, und von dem gesagt wird, dass sein Geist in ihrer Puppe, die nie gefunden wurde, weiterleben soll. So sah es zumindest Don Julian Santana Barrera, ein Fischer, der allein auf der Insel lebte und die Leiche des Kindes fand. In den Jahren danach fühlte er sich zunehmend von der Puppe, die er mehrfach gesehen haben wollte, verfolgt, und versuchte sie zunächst mit gefundenen Puppen zu besänftigen, doch als der Spuk nicht nachließ, verstümmelte er die Puppen, um sie hundertfach zur Abschreckung des Gespenstes auf der ganzen Insel aufzuhängen.
Die Geschichte entwickelte sich schnell zu einer urbanen Legende, die über die Grenzen Mexikos hinaus bekannt und auch zu einem literarischen Stoff wurde. Die jüngste Bezugnahme darauf ist allerdings musikalischer Natur. Auf ihrem Tape „Planet of the Lost Dolls“ verlegen die römischen Noise Cluster die Geschichte auf einen fernen Planeten und verpassen ihr die eine oder andere reißerische Beigabe, wie es auch ein Jess Franco in seinen Filmen getan hätte – hier ist das Mädchen schon kein Kind mehr und wurde von einem obsessiven Mann, der ihr Ehemann, ihr Liebhaber oder ihr Vater sein könnte, auf diesen Planeten entführt, um sie vor einem gefahrvollen Leben auf dem dekadenten Planeten Erde zu bewahren. Auch in dieser Geschichte stirbt das Mädchen und lässt nur ihre Puppe zurück und verwandelt den Planeten in einen spukhaften Ort. Soweit die Liner notes.
Noise Cluster sind im Grunde ein audiovisuelles Projekt, und vor einigen Monaten gab es zu dem Stoff auch bereits eine Ausstellung mit Fotoarbeiten. Doch auch ohne diese Referenz ist die ästhetische Ausgestaltung der Geschichte, die linear erzählt und durch Titel und gelegentliche Vokalpassagen erzählt wird, musikalisch sehr anschaulich gemacht: ein kühl ausgeleuchtetes, cartoonhaftes, an die Popart-Ästhetik retrofuturistischer Sci Fi-Filme und Groschenhefte erinnerndes Szenario bildet das Setting für eine Räuberpistole, deren pessimistischer Verlauf vielleicht am ehesten noch die Industrial-Roots des Duos in Erinnerung ruft.
Ein monoton kreisendes, aufgerautes Dröhnen bildet den Auftakt, ein gesampleter Nachrichtensprecher und weitere Ansagen künden die kommende Dramatik an, die sich irgendwann in harschen Rhythmen entläd. Der mal analoge, mal digitale Sound zwischen ambienter Elektronik und rhythmischem Noise erinnert stark an „Lympha Obscura“, auf dem Arianna und Flavio noch nicht Noise Cluster hießen, und wie schon zuvor sorgen die zurückgenommenen, subtilen Passagen für einige der größten Momente. So in „The Chase“, das keine Action bietet, aber eine Menge an mysteriösen Sounds, die wie angedeutete Gefahren schemenhaft um die Ecke lurken und unerkannt bleiben. Sorgt die erste Seite für die größte Spannung, so finden sich auf der zweiten die reißerischsten Momente: Gut gestaltete technoide Spielereien, nostalgischer Pulp, Ariannas beschwörende (italienische?) Vocals und Flavios schnatternde Trompete machen aus der extraterrestrischen Utopie eine Tour de Force, die als lärmender, quiekender Psychotrip endet. (U.S.)
Label: Luce Sia