Am 28. Dezember 1879 ereignete sich nahe der schottischen Stadt Dundee eine der großen Katastrophen der Eisenbahngeschichte. In den dunklen, winterlichen Abendstunden stürzte ein Teil der drei Kilometer langen Brücke über den Meeresarm Firth of Tay unter dem Gewicht eines Passagierzugs ein, wobei mehr als siebzig Menschen verunglückten. Über Jahre wurde der Fall untersucht, man kam zu dem Schluss, dass schlampige Bauarbeit und mangelnde Wartung zu dem schlechten Zustand der Brücke beitrugen. Nie wurde man sich aber einig, ob und wie sehr die Ingenieure, die die Tay Bridge konstruiert hatten, mit Schuld an dem Unfall waren.
Auf dem Cover des neuen The Great Park-Albums “Woe” ist das bekannteste Foto der eingestürzten Brücke zu sehen, und dies ist nicht die einzige Referenz an das Ereignis. In einem der Songtexte sind Passagen aus einer historischen Darstellung enthalten, doch bei genauerem Hinhören entsteht schnell der Eindruck, dass die acht Songs auf vielfältige Art mit den Ereignissen um den Unfall verwoben sind und das lyrische Ich sich immer wieder neu mit (echten oder fiktionalisierten) Beteiligten vage überblendet und so deren Ängsten, Schuldgefühlen und resignativen Gedanken eine Stimme gibt – oder in ihnen eine Allegorie für seine eigenen findet. Doch die Texte sind zum Glück zu eigenwillig und die in ihnen anklingenden Geschichten zu ausschnitthaft, um dies genau festlegen zu können.
All dies verschmilzt zu einer untrennbaren Einheit mit dem vertrauten folkigen The Great Park-Sound, dessen Skelett aus sanften oder spukhaften Gitarrenpickings und Stephen Burchs Gesang (der an einigen Stellen noch verzweifelter und heißerer anmutet als sonst) diesmal mit Keyboard, einer zweiten Gitarre und perkussiv verwendeten Ketten und Rasseln ergänzt wird. Streicher und Bläser, mit denen Burch hier und da liebäugelte, kommen in den letzten Jahren und so auch hier nicht mehr vor, und vielleicht würden diese auch zu sehr vom Wesentlichen, nämlich vom ergriffenen Charisma des Gesangs und den in ihrer Schlichtheit so eindringlichen Akkorden ablenken.
Natürlich ragt auch hier wieder einiges heraus, exemplarisch sollen das psychologisch feinfühlige “Make Each Other Anew”, das in seiner Direktheit erschütternde “I Do You Don’t” und das epische “Men in Corners” genannt werden, dessen beklemmende, angsterfüllte Stimmung, die nur halb hinter der staunenden Melodie und dem hypnotischen Takt kaschiert wird, in eine Klasse mit großartigen Songs wie “We Should Have, We Could Have, We Didn’t” gehört.
Als Konzeptalbum würde ich “Woe” dennoch nicht bezeichnen, zu vage und diffus bleiben die Bezüge der Songs zum Tay Bridge Desaster, so dass einen immer mal wieder das Gefühl beschleicht, man bilde sich den thematischen Rahmen letztlich doch nur ein. Doch auch wenn man so weit nicht gehen will, funktionieren die Songs auch ohne Wissen über diesen Hintergrund, so wie man einen guten Umberto Eco- oder Antonia Byatt-Roman auch ohne die entsprechenden Geschichtskenntnisse lesen kann. Wie die Klammer eines imaginären Faktenromans wirkt Woe allerdings, da sich fast zeitgleich zu seiner Veröffentlichung der Einsturz der Ponte Morandi in Genua ereignete, in dessen Folge sich die Diskussionen von damals in den Statements von Technikern und Politikern z.T. fast buchstäblich wiederholen. Dies verleiht dem Ganzen eine weitere tragische, beinahe surreale Dimension. (U.S.)
Label: Woodland Recordings