Der Chanson ist am ehesten in dunklen Gassen französischer Altstädte und in zwielichtigen Hafenvierteln mit ihren Bordellen und Kaschemmen zuhause, und am stärksten ist er, wenn er nach Tobak riecht und eine Fuselfahne vor sich herträgt. Der Chanson ist aber auch ein durchaus experimentierfreudiger Zeitgenosse, der sich auch in etwas vornehmeren Cafés zu benehmen weiß, sich dem Jazz und sogar – man denke nur an den großartigen Leo Ferré – der Avantgarde anzunähern versteht, und dass er auch eine hippieske Seite hat, ist längst ein offenes Geheimnis.
Ferré ist mit seinen italienischen Versionen z.T. ganzer Alben auch ein gutes Beispiel für die Mehrsprachigkeit des Genres, womit man dann auch bei Roma Amor angekommen wäre: Das Duo aus der norditalienischen Emilia Romagna begann im letzten Jahrzehnt populäre italienische, teilweise dialektale Songs des 20. Jahrhunderts in spartanischen Versionen mit Akkordeon, Gesang und Gitarre zu interpretieren und avancierte in Kennerkreisen schnell zu einem etwas DIY-lastigeren Pendant zu Gruppen wie Ardecore. Von Beginn an gab es, neben den ohnehin vorhandenen Gemeinsamkeiten beider Traditionen, französische Einflüsse in ihrer Musik, gelegentlich französische Texte und Cover von Jacques Brel und anderen, und mit der Zeit zeichnete sich das Chansonelement immer deutlicher ab.
Auf ihrem jüngst erschienenen sechsten Album “Miraggio” haben sie sich wie selten zuvor dem Walzertakt verschrieben und präsentieren elf Songs von Träumen und Wundern, die aber wie so oft an Orten des Verfalls und der sehnsuchtsvollen Einsamkeit entstehen, in öden Zimmern und nächtlichen U-Bahnen, in Hafenspelunken, Stundenhotels und einsamen Herbstszenarien.
Sehnsuchtsvoll und tragisch in den tiefen Versenden und zugleich von einer leidenschaftlichen Kraft beseelt klingen die ersten Verse des in französisch gesungenen Openers, der neben der berührenden Emotionalität auch eine ganz profane Suche auszudrücken scheint, nämlich die nach einer Balance zwischen den simplen, folkigen Sounds der frühen Alben und Konzerte und den elektronischeren und manchmal auch etwas weniger harmonischen Arrangements seit ihrem vor fünf Jahren erschienenen Album “On the Wire”. Nie schien Harmonie und Disharmonie so versöhnt wie im Zusammenspiel der anrührenden Melodien und gelegentlichen Mandolinenfiguren mit der verrauschten elektronischen Unordnung, die die luftigen Stellen der Musik ausfüllt.
Trotzdem steht Euskis oft etwas heisere Stimme fast immer im Vordergrund, zusammen mit Gitarre oder Akkordeon oder beidem, und in dieser Konstellation arrangieren sich die Hauptzutaten mit hippiesken Handdrums, launigen Mundorgeln, reizintensiven Hintergründen und dem karussellartigen Auf und Ab der Melodien, die auch mal eine orientalische Färbung annehmen können – ein eher seltenes und meist gewolltes Phänomen in italienischer oder französischer Musik, wohingegen ähnlich geartete griechische Populärmusik, an die mich der instrumentale Titelsong erinnert, seit langem solche Elemente aufweist. Romantik, die Sehnsucht nach dem Besonderen, Unendlichen, die schöne Utopie im Angesicht der Gosse, der versifften Stundenhotels und der vergänglichen Liebelei, die nur dann ewig währen kann, wenn auch im November Mai ist: All dies ist allgegenwärtig in den wunderbaren Songs, unter denen auch zwei Cover – Édith Piaf’s “Les Amants D’Un Jour” auf Italienisch als “Alberge A Ore” und “Liebelei” von Rolf Bauer bzw. Milva – versteckt sind.
Tolles Album des schönsten Palindroms südlich der Alpen, meiner Ansicht nach ihr stärkstes seit “Occhi Neri” und vielleicht das, welches die verschiedenen Elemente des Roma Amor-Stils am besten zusammenführt.(U.S.)
Label: Old Europa Cafe / Wrotycz Records