POST SCRIPTVM: Variola Vera

In den Ländern des ehemaligen Jugoslawien erinnern sich viele ältere Menschen noch an eine Pockenepidemie, die in den frühen 70ern ganz überraschend im Kosovo ausgebrochen war. Ein muslimischer Bürger eines kleineren Ortes hatte sich vermutlich auf einer Pilgerreise in den Nahen Osten infiziert und den Erreger, das sogenannte Variola-Virus, mit in seine Heimat gebracht.

Dass der Vorfall, an dem um die 80 Menschen starben, heute weitgehend vergessen ist, verdankt sich u.a. auch der Tatsache, dass der Infizierte sich in einer eher dünn besiedelten Region aufhielt. Nach zwei Monaten war diese letzte Pockenepidemie Europas besiegt, auch in Deutschland, in die das Virus von einem Urlauber geschleppt wurde, verbreitete es sich nicht weiter. Dennoch sorgte der Schreck, den die Krankheit, die man wie Pest und Cholera eher mit früheren Epochen in Verbindung bringt, in der kurzen Zeit der Impfungen und Ausgangssperren vorübergehend für eine fast apokalyptische Panik, oder je nach Temperament Resignation.

Dass die in New York lebenden, aber aus Russland stammenden Post Scriptum, die auf den vorangegangenen sieben Alben immer wieder Themen aus der Geschichte des Ostblocks in ihre Sujets integrierten, diese Episode ausgerechnet im Jahr 2019 (ja, wir sind reichlich spät!) zum Anlass eines neuen Konzeptalbums nahmen, mag – auch wieder je nach Temperament und v.a. Haltung in Glaubensfragen – ironisch oder prophetisch anmuten. In ihrer typischen Mixtur aus Musique Concrète, Industrial und Ansätzen dunkler Technomusik vergegenwärtigen sie vor allem den beklemmenden, dystopischen Aspekt, der sich bei Pandemien ja bekanntlich einschleicht. Ein Covid 19-Album avant la lettre? Soweit muss man sicher auch wieder nicht gehen.

Post Scriptum sind für viele weder Fleisch noch Fisch, da sie mit ihren beklemmenden Soundkollagen, deren imaginäre Schauplätze an Eraserhead erinnern würden, wenn dieser nicht von Lynch, sondern von Svankmeijer gedreht worden wäre, zwischen allen Stühlen sitzen. Auf “Variola Vera” erweist sich genau das als besondere Stärke. Nach dem Vorspann “Vuelos de la Muerte”, der mit von Donnerschlägen durchpeitschtem kosmischen Kreisen die Zaghaften abholt, geht es gleich ins Zentrum des Geschehens, wo alle verstörenden Mittel zum Einsatz kommen. “Born Into Trauma”, in dem Stimmen, die Fanfaren ähneln, über rauen Metallböden und martialischen Trommelwirbeln Panik induzieren, verkörpert die mitreißende Seite des Post Scriptum-Stils und lässt einen ganz in die Musik und die Emotionen eintauchen. Während solche Stücke nah an Power Electronics herankommen, entfaltet sich “Chimer of Conscience” wie eine Mischung aus Hörspiel und Reportage, lässt metallene und technoide Soundfragmente als Kulisse für einen deutschsprachigen Vortrag verschmelzen.

In diesen und ähnlichen Tableaus sind Post Scriptum Meister darin, Sensitives und Derbes zusammenzuführen, zu kontrastieren und manchmal auch zu einer schrägen Einheit werden zu lassen, die die Musik so “realistisch” macht. Das streicherartige Flattern und Flirren hinter tosendem Wind und beklemmenden Durchsagen in “Phatografia”, die wie aus einer höheren Sphäre in einen Strudel aus Schreien und Gluckern hineingewehte Melodie in “Rat in the Crown”, die hauchfeinen Tupfer einer Frauenstimme über bedrohlichem Verkehrslärm in “Dusk in a Leech Jar”: All dies sind nur willkürlich herausgegriffene Wegmarken, die Fixative allerdings, die all das zu einer atmosphärischen Einheit werden lassen, scheinen einer obskuren Alchemie zu entstammen, die dieses Album auch ohne die eher zufälligen Zeitbezüge zu einem gewinnbringenden Werk macht. (U.S.)

Label: Tesco