Es ist schon erstaunlich, wie schnell es Kristin Hayter, die unter dem an Hildegard von Bingen anspielenden Projektnamen Lingua Ignota Musik macht, gelungen ist, auch von der Mainstreampresse wahrgenommen zu werden. Das wurde schon bei ihrem letzten Album „Caligula“ deutlich, “Sinner Get Ready” schafft es erstaunlicherweise sogar bis in die Financial Times. Das hat sicher mit der Qualität ihrer Musik zu tun, wahrscheinlich fällt ihre Thematisierung von Missbrauchserfahrungen im Zeitalter von „MeToo“ aber auf besonders fruchtbaren Boden. Anlässlich ihres Albums „All Bitches Die“ hieß es auf diesen Seiten zur Genese des Projekts: „Lingua Ignota knüpft an eine Uniarbeit Hayters an und soll ‘misogynist content as biblically vitriolic anthems for survivors of domestic violence and sexual assault´” illustrieren. Von Anbeginn an bediente sich Hayter einer biblisch-alttestamentarischen Ikonographie und Metaphorik, in der ein strafender Gott, ein Vertreter einer „totalen Religion“ (Jan Assmann), evoziert wurde, um Rache (aus) zu üben.
Während des Lockdowns veröffentlichte Hayter einige Coverversionen (von Chris Isaaks „Wicked Game“, es gab eine eine Neuaufnahme von Dolly Partons „Jolene“, außerdem Eminems „Kim“ (besonders passend zum Thema Misogynie) und Bachs „Agnus Dei“). Man mag zwar etwas zusammenzucken, wenn Hayter bezogen auf ihr neues Album (wenn auch durchaus selbstreflexiv) einen Begriff wie “Gesamtkunstwerk” verwendet, aber darüber lässt sich bei der Qualität ihres neuen – bei Sargent House und nicht nicht mehr bei Profound Lore erschienenen – Albums hinwegsehen.
Während auf ihren letzten Alben ihr mit Topoi der Oper spielender Gesang und ihre Feuer und Schwefel-Bildlichkeit mit Metal wie auch Industrialelementen angereichert wurden, findet sich auf „Sinner Get Ready“ eine (etwas) andere Herangehensweise: Zwar sind Metaphorik, Thematik und Gesang (weitgehend) gleichgeblieben, aber die Elemente extremerer Musikformen sind fast völlig weggefallen. Stattdessen integrierte Hayter, die zu dem Zeitpunkt der Aufnahmen – inmitten der Pandemie recht isoliert – in Pennsylvania lebte, lokale akustische Instrumente. Im Artwork finden sich Bilder aus den in Pennsylvania situierten, klimatisch kuriosen, als „geologisches Wunder“ bezeichneten Scotia Barrrens, die durchaus zur Stimmung des Albums passen.
„Hide your children hide your husband” – mit diesen von Klavier untermalten Worten beginnt das Album. Nur gegen Ende finden sich beim Opener “The Order Of Spiritual Virgins” kurzzeitig dissonante Momente. Auf dem darauf folgenden „I Who Bend The Tall Grasses“ wird der „Glorious father“ angerufen und es wird gefordert: „intecede for me [...] split him open [...] I don’t give a fuck Just kill him you have to I’m not asking“. Untermalt von einer dunkel-dröhnenden Orgel, singt und schreit Hayter und ihre Stimme droht zu brechen. Das erinnert von der Art des Vortrags noch am ehesten an die Vorgängeralben. Auf dem entfernt nach Blues klingenden „Many Hands”, aus dem der Albumtitel entlehnt ist, erzeugen die eingesetzten akustischen Instrumente (u.a. ein mountain dulcimer) leicht atonale Momente: „And rough rough fingers for every hole you have“. Es finden sich eine Reihe verhältnismäßig sanfter Klavierballaden, etwa „Pennsylvania Furnace“ (mit der großartigen Zeile „And all that I’ve learnt is everything burns“), „Perpetual Flame Of Centralia“ oder das mehrstimmige „Man Is Like A Spring Flower“. Diese Stücke könnte man, ohne den Kontext zu kennen, auch völlig affirmativ lesen. Textlich beeinflusst wurde Hayter von sakralen Texten der Mennoniten und Amish. „Repent Now Confess Now“ mit mehrstimmigem Gesang Hayters und Einsatz von Banjo beschreibt die Eigenschaften des strafenden Gottes: „The surgeon’s precision is nothing/No wound as sharp as the will of God [...] He will ram your eyes with glass [...] No wound as sharp as the will of God“.
Hayter verwendet eine Reihe von thematisch verwandten Samples; so ist auf der Pianoballade „The Sacred Linament Of Judgement” zu hören, wie Jimmy Swaggart seiner Gemeinde beichtet, er habe Prostituierte aufgesucht. Diese Heuchelei des noch immer erfolgreichen Fernsehevagelisten, der seit Jahrzehnten seinen Anhängern das Geld aus der Tasche zieht, führt Hayter mit Überaffirmation ad absurdum, wenn sie singt: „Bold shall I stand on that great day/In bright celestial robes arrayed/fully absolved through Christ I am/From sins too terrible to name“. Der Abschlusstrack „The Solitary Brethren Of Ephrata“ zitiert ein Interview mit einer Gläubigen, die sich gegen die Notwendigkeit einer Coronaimpfung ausspricht und es damit begründet: „I’m covered in Jesus’s blood“.
In God’s own country, in dem nicht unerhebliche Teile der sowieso schon extrem abstoßenden Evangelikalen einen „Christian nationalism“ verfolgen und einen Mann bedingungslos unterstützen, der wahrscheinlich die Bibel noch nie tatsächlich aufgeschlagen hat und in dem der Glaube an das sogenannte prosperity gospel auch dazu führen kann, dass man es ohne mit der Wimper zu zucken hinnimmt, dass Gott einem Prediger auch schon einmal einen Privatjet zugesteht – die Zahl weiterer Beispiele ist Legion – wird deutlich, dass den Glauben betreffend eigentlich nichts mehr satirisiert werden kann. Lingua Ignota ist da ein schönes Antidot. (MG)
Label: Sargent House