R.B. RUSSELL: Heaven’s Hill

R.B. Russell und seine Partnerin Rosalie Parker betreiben einen der wichtigsten Verlage für (im weitesten Sinne) unheimliche Literatur. Tartarus Press hat sich nicht nur verdient gemacht, das Vermächtnis Arthur Machens zu wahren oder (teils vergessene) Klassiker wiederzuveröffentlichen, sondern man ist auch immer wieder auf der Suche nach neuen Autoren. Dabei fällt auf, dass der Verlag auf gewisse Weise im wahrsten Wortsinne Avantgarde ist, wiederveröffentlichte man doch schon Robert Aickman und seine „strange stories“ in wunderschönen Editionen, lange bevor ein großer Verlag wie Faber & Faber die Werke in preisgünstigen Paperbacks verfügbar machte. Sie sind Heim des augenblicklich produktivsten und elegantesten Verfassers von Geistergeschichten (Reggie Oliver) und veröffentlichten die Erstauflage von Andrew Michael Hurleys Roman „The Loney“, der den Preis für das Buch des Jahres bei den British Book Industry Awards verliehen bekam. Jüngst erschien mit Andrew Komarnyckyjs „Erza Slef“ eine an Nabokov anspielende beeindruckende metafiktionale Tour de Force. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen, allerdings geht es im Folgenden weniger um Russells Qualitäten als Verleger, sondern als Autor, der eine Reihe von Romanen und Kurzgeschichten verfasst hat, die sich (natürlich, möchte man sagen) auch mit dem Unheimlichen, dem Merkwürdigen und Seltsamen beschäftigen.

In dem im Düsseldorfer Verlag Zagava erschienenen Roman „Heaven’s Hill“ trifft die Hauptfigur Ruth Pritchard Oliver Dacey, einen alten Freund aus Kindertagen, wieder, der inzwischen für den britischen Nachrichtendienst arbeitet. Beim Abhören sogenannter Zahlensender, Kurzwellensender, zum Teil aus der Zeit des Kalten Kriegs, auf denen scheinbar zusammenhangslose Zahlenreihen endlos vorgelesen werden, hört Dacey plötzlich Mitteilungen, die seine und Ruths Abenteuer in fernen Ländern beschreiben, wie es sich die beiden vor Jahrzehnten in einem Kinderspiel namens International Travel ausgedacht haben. Als wäre das nicht genug, behauptet Dacey, mit Hilfe der Zahlensender könne er in der Zeit (zurück-)reisen und diese beschriebenen Abenteuer als jüngeres Selbst tatsächlich erleben. Bei dem Versuch das Mysterium zu lösen, gerät er unter Spionageverdacht und muss vor seinem Arbeitgeber fliehen.

„Heaven’s Hill“, auf den Ort verweisend, der als Schauplatz des Geschehens dient, funktioniert auf mehreren Ebenen: Der Roman ist mit seiner Darstellung von Versuchen, den Verfolgern zu entkommen und alle Rätsel zu lösen, ein wahrer page turner, der einen immer weiter lesen lässt, wobei er fast durchgängig von einer spielerischen Leichtigkeit geprägt ist (auch wenn an einer Stelle – Vorsicht, Spoiler!- zwei Agenten in ihrem Auto ersticken) und sicher (nicht ganz zufällig) von Stimmung und Plot an Serien wie etwa „The Avengers“ (die im Deutschen vor etlichen Jahrzehnten als „Mit Schirm, Charme und Melone“ ebenfalls sehr polulär waren) anspielt und -knüpft. An einer Stelle heißt es: „’You’re only working on theories stolen from episodes of Dr Who’“.

Inmitten des spannenden Plots finden sich dann auch immer wieder metafiktionale Kommentare: Ruth beschreibt ihre Erlebnisse selbstreflexiv als „a bizarre mixture of James Bond and Mills & Boon romance“ (was auch keine schlechte Charakterisierung des Romans ist). An anderer Stelle ist zu lesen: „My inner twelve-year-old is fascinated, but I admit it can be unnerving.“  Oder aber: „’When I watch movies […] I can sometimes be swept up in the story. But I’ve never experienced a fraction of the excitement I now feel…or the trepidation.’“

Es gibt Reflexionen über das Zeitreisen: „There are lots of paradoxes associated with time travel, and I forget the names of them, but the self-consistency principle trumps them all.“ Aber im weiteren Verlauf der  Geschichte manisfestieren sich dann doch diese Paradoxien, die das oben genannte Prinzip ad absurdum führen; etwa dann, wenn Ruth als junge Frau nach einer Zeitreise plötzlich in der Gegenwart ankommt und ihr mitgeteilt wird: „But your older self, the real you, is in the other room“. Da blickt dann durchaus Philip K. Dick um die Ecke. Am Ende muss Ruth feststellen, dass ihre und Olivers Reisen tatsächlich etwas hervorgebracht haben, was vorher nicht existiert hat: Es gibt „a closed loop of information that had no source.“ Ruth erfährt bei ihren Zeitreisen, wie insignifikant sie letztlich ist: „She had been dreaming of vast spaces filled with vague, shifting colours – impossible vistas sculpted out of the fabric of space and time itself. Her insignificance had been both a liberation und utterly soul-destroying.“ Eine deutlich an Lovecraft anspielende Passage.

Auf einer weiteren Ebene gibt es auch Passagen, die ziemlich deutlich auf unsere Gegenwart verweisen: Ruth wird sich bei ihrer (Zeit-)Reise in die 60er bzgl. Lyndon B. Johnsons Voting Rights Act bewusst: „She hadn’t realised that there had still been so many means to disqualify African-Americans from voting“. Man muss fast unweigerlich an die Legion von Gesetzen denken, die in den USA in den letzten Monaten auf den Weg gebracht wurden, um Minderheiten das Abgeben der Stimme zu erschweren. Auch Überlegungen, dass vieles, was den Charakteren widerfährt, der feuchte Traum eines jeden Paranoikers ist, lässt an die hypertrophen Verschwörungserzählungen der Gegenwart denken.

„’It’s far more complicated than you could ever imagine.’“, heißt es gegen Ende, was man auch als Kommentar über diesen Roman sagen könnte.

Um auf den Anfang zurückzukommen: Dass Russell, der einen – wie oben ausgeführt – Verlag leitet, der im besonderen Maße Augenmerk auf Inhalt und äußere Präsentation legt, bei Zagava veröffentlicht, ist natürlich mehr als passend, denn schließlich hat der Verlag aus Düsseldorf sich in den vergangenen Jahren etabliert, als (Veröffentlichungs-)Ort hervorragender und herausragender zutiefst origineller genre- und gattungsübergreifender und aufwendig(st) gestalteter Bücher (von Nick Blinko, Mark Samueks, Reggie Oliver oder D.P. Watt, um nur ein paar wenige zu nennen).

Wer will, der kann Russells kürzlich veröffentlichtes Ambientstück „Heaven’s Hill, East Sussex“ beim Lesen  hören, das der Lettered Edition als eine von Bladud Flies/The Bricoleur hergestellte Lathe Cut 7” beiliegt. (MG)

Verlag: Zagava