TECHNO THRILLER: Decameron

Mitte des 14. Jahrhunderts schrieb der florentinische Dichter Giovanni Boccaccio mit seinem Decamerone eine der ersten und wirkmächtigsten Novellensammlungen der Literaturgeschichte. Hintergrund des Buches war eine verheerende Pestepidemie, die einige Jahre zuvor in der Toskana wütete. Der “schwarze Tod” bildet auch die Rahmenhandlung, in der zehn junge Leute von Florenz in ein abgelegenes Landhaus gezogen sind, um vor der Epidemie Schutz zu suchen. Dort erzählen sie sich nach und nach insgesamt hundert Geschichten – jeden Tag zehn – und entwerfen damit ein großes, oft doppeldeutiges und nicht selten zotiges Panorama ihrer Zeit. Vor allem seit Pasolinis Verfilmung von 1970 erlebte das ausgesprochen unterhaltsame Werk auch in der Populärkultur ein Comeback, und so überrascht es auch etwas weniger, dass eine am Abseitigen interessierte Elektronikband wie das belgische Duo Techno Thriller vor mittelrweile einem Jahr eine Hommage an das Buch herausgebracht hat.

Das schlicht “Decameron” betitelte Album enthält dem Titel entsprechend, der soviel wie “Zehntagewerk” bedeutet, zehn Stücke mit auf Französisch vertonten Auszüge aus verschiedenen Passagen des Buchs. Vertont ist hier allerdings nicht im Sinne einer schlichten Lesung mit Hintergrundmusik gemeint, denn die Musik erscheint an keiner Stelle wie bloßes Beiwerk, und vermutlich fällt der literarische Kontext kaum auf, wenn man des Französischen nicht mächtig ist.

Im eröffnenden “Bethlehem 1566″ weht ein endzeitlicher Wind, zu schön um Pesthauch zu sein, eine liebliche Melodie herbei, die an ein Xylophon erinnert. Doch was anfangs noch recht entspannt klingt, bekommt schnell eine orchestrale Fülle und kratzig hochtönende Ecken und Kanten. Vor dieser Kulisse ertönt der unheilvolle Sermon, der sich durch die vielen mit klassischen Instrumenten angereicherten Synthie- und Noiselandschaften des Albums ziehen wird. Dabei ist der entfernt an gewisse Neofolk-Standards erinnernde Sprechgesang durchaus wandlungsbereit: Im somnambulen Gemisch aus Orgeln und Orchester, das in “Le Sombre Hiver” zu einem Drone kondensiert wird, huscht er als geheimnisvolles Flüstern durch Gitter tribaler Rhythmen, und man könnte dabei an die wenigen französischen Songs von David Tibet denken. Von der Marschtrommel in “Jeudi Saint” lässt er sich zu kraftvollerem Einsatz mitreißen, im nicht minder zackigen “Sous Le Regard Des Dieux” allerdings zieht er sich in dumpfes Murmeln zurück.

Gerade in der zweiten Hälfte, in der der rezitative Gesang fraglos ermüden könnte, offenbart “Decameron” ganz unterschiedliche Gesichter. Der hypnotisch aufwühlende Titeltrack, der perfekt in einen Techno Thriller passen würde, entpuppt sich als hechelnder, brummender Spießrutenlauf, und nicht nur hier zeigt sich die glitschig technoide Seite der ansonsten von klassischen und z.T. mittelalterlichen Instrumenten dominierte Musik als das eigentliche, oftmals verteckte Soundfundament. In “La Chimere” stimmt eine gewisse Naomie Klaus vor spooky Saitenpicking und hölzernen Takten in den Gesang ein, ein weiterer Gast namens Drwiwy keift später vor vibrierenden Propellern, und das betörende Violinsolo, mit dem Tamara Goukassova in “Leonore” den aufgewühlten Schlachtenlärm besänftigt, zählt zu den Höhepunkten des ganzen Albums.

Die emotionale Mixtur aus Endzeitstimmung und frivoler Lebenslust, die sich in Boccaccios Geschichten findet, durchdringt auch die meisten Passagen dieses Albums, und die Intensität von Techno Thriller verdankt sich auch in dieser Hinsicht gewiss der Tatsache, dass ihre Kreativität nicht abgestanden ist und ihre Musik eine große Aufbruchstimmung versprüht. Aus diesem Grund wirken auch ihre vielen Rückgriffe auf subkulturelle Versatzstück nicht ideenlos, und ich empfehle die Platte auch gewissenlos allen Dark Folk-Freunden, die sich nicht in ihren ewigen Spätneunzigern verfangen haben, und allen Coil-Fans, die Lust auf noch nicht gekanntes haben. Wobei ich überzeugt bin, dass Techno Thriller längst ihr Zuhause gefunden haben. (U.S.)

Label: Teenage Menopause