COIL: Love’s Secret Domain

Vor fast genau einem Jahr schrieb ich anlässlich der längst überfällgen Wiederveröffentlichung von Coils  meisterhaftem Spätwerk „Musick to Play In The Dark“, wie wichtig es sei, inmitten der ganzen semi- bis gar nicht offiziellen Sekundär- bis Tertiärveröffentlichungen die eigentlich wichtigen Alben Coils wieder verfügbar zu machen. Dass es von dem ursprünglich 1991 veröffentlichten dritten Album „Love’s Secret Domain“ nun verschiedene Versionen von zwei Labeln gibt (eine über Danny Hyde auf Infinite Fog, die andere unter Mitarbeit von Stephen Thrower auf dem reaktivierten Wax Trax), zeigt die noch immer problematische Rechtesituation – aber zumindest ist mit „Love’s Secret Domain“ nun ein Album wieder zugänglich, das nicht unerheblich zu Coils (Kult-)Status beigetragen hat.

Die Genese von „Love’s Secret Domain“ ist eine für Coil typische voller (Ver-)Änderungen, Abzweigungen und Modifikationen. Ursprünglich sollte der Nachfolger des 1987 erschienenen „Horse Rotorvator“ ein Album namens „The Dark Age Of Love“ werden: Auf dem danach veröffentlichten „Gold Is The Metal“, einer Sammlung mit Outtakes, Unveröffentlichtem und Alternativversionen, hieß es, das Album sei „the space between two twins“. Der dunkle(re) Zwilling des auch schon von Tod geprägtem „Horse Rotorvator“ sollte stark beeinflusst sein von den zahlreichen Toten, die die AIDS-Pandemie forderte und die auch in Coils Freundeskreis riesige Lücken gerissen hatte, blieb aber eine Totgeburt. Wie so oft bei Coil änderten sich die Pläne, u.a. kam die aufkommene Technobewegung mit ihrer drug of choice MDMA dazwischen. Aus weiteren Arbeitstiteln wie „120 Dalmations In Sodom“, „To Eat His Own“ oder „The Side Effects Of Life“ wurde schließlich „Love’s Secret Domain“, ein Album geprägt von Drogenexzessen (Rose McDowall wurde in Ecstasy bezahlt). Stephen Thrower meinte kürzlich noch angesichts der Wiederveröffentlichung bzgl. seines Verlassens der Band und der Rolle, die Substanzabusus dabei spielte: „I can’t really see how it could have been avoided, because the hedonism, and the experimentation, and the deliberate cultivation of delirium was all part of Coil’s raison d’etre. You couldn’t strip it away at that time and still have Coil, so it was inevitable really that we were going to crash and burn.“

Bezeichnenerweise wurden die beiden Stücke als Singles ausgekoppelt, die mit am stärksten von der Tanzmusik der Zeit beeinflusst waren: „Windowpane“ (zu dem Sleazy ein Video drehte, das Balance tanzend inmitten des Mekongs zeigte) und das weitgehend instrumentale „The Snow“. In England’s Hidden Reverse meint Stephen Thrower zu letzterem: „I loathed [it] from day one“. Aus der Distanz betrachtet sieht seine Einschätzung ein klein wenig anders aus: „I can now listen to ‘The Snow’ on LSD from a detached perspective and quite enjoy it, in a toe-tapping sort of way. But at the time I just thought it sounded too much like a wholesale influence imported almost intact from another musical field instead of being perverted, twisted and spun in interesting ways. “ Tatsächlich ist “The Snow” vielleicht das am wenigsten gut gelalterte Stück und eigentlich primär Musik für die „Knechte des Metronoms“ (Tietchens), aber wenn man bedenkt, dass Coil auf all ihren Veröffentlichungen oftmals ein weites Netz unterschiedlichster Referenzen erschufen – in der Wax Trax-Edition spricht Drew Daniel in seinem umfangreichen Essay zu Recht  von dem Album als „a delirious array of references“ – , dann lohnt sich auch hier ein näherer Blick: Da taucht gegen Ende des Stücks die Stimme Frater Perdurabos (vulgo: The Great Beast) auf und samplen Coil einen Melodieschnipsel des Traditionals „The Oak And The Ash“ in der Interpretation von The King’s Singers, ganz so, als wollten Sleazy, Balance und Thrower eine, ihre ganz eigene alternative englische (Folk-)Tradition (er)schaffen – tatsächlich England’s Hidden Reverse. Auf den Remixen des Stücks, die sich auf der Singleveröffentlichung finden, erweitert sich der Refrenzrahmen, exemplarisch im bezeichnenderweise „Answers Come In Dreams“ betitelten Remix von Jack Dangers, in dem Coil die gleiche Stelle aus Peter Brooks Version von Peter Weiss’ “Marat/Sade” samplen wie Current 93 einige Jahre zuvor auf ihrem Album „Christ And The Pale Queens“. Letztlich ist jedes Stück von Coil ein eigenes Universum (und wir wissen schließlich: „The Universe Is A Haunted House“.).

Coil konnten sich – dank Sleazys Arbeit als Regisseur zahlreicher Musikvideos – in verschiedenen Studios State of the Art-Technik leisten und nutzten ausgiebig Sampling, wie z.B. auf dem Opener „Disco Hospital“, auf dem Worte zerhäkselt und in Fragmente aufgelöst werden. Das irritiert, verstört, so wie es im fast schon oxymoronischen Titel anklingt. Ein Höhepunkt des gesamten Albums ist „Chaostrophy“, auf dem man meint, es werde im Radio nach Sendern gesucht, Streicher- und Oboepassagen lassen sich in einem Sturm aus Statik erahnen, verschwinden, um dann am Ende kurzzeitig aufzutauchen. Wie hier scheinbar Harmonisches und Dissonantes kontrastiert und dann letztlich synthetisiert wird, ist beeindruckend. Annie Anxiety tritt auf dem schleppenden „Things Happen“ in der Persona einer Prostituierten in El Salvador auf, um einen Stream of Consciousness-Monolog vorzutragen (nachdem sie, wie man bei Drew Daniel erfährt, mit John Balance auf dem Weg von der U-Bahnstation zum Studio ausgiebig dem Whisky zugesprochen hatte). Auf den zwei Teilen von „Teenage Lightning“ (die auf „Lorca Not Orca“ als Wiedergänger im Flamencogewand auftauchen) ist Balances Stimme verfremdet: “Don’t be alarmed/It will not harm you/It’s only lightning”. „Where Even The Darkness Is Something To See“ ist von Didgeredoo durchzogen. „Further Back And Faster“ verweist auf Charles Laughtons einzige Regiearbeit, den somnambulen „The Night of the Hunter“, mit Robert Mitchum als bizarrer Prediger: “See his hands/Tattooed fingers/Tattooed fingers HATE”. Neben eher rhythmischen Stücken gibt es das wunderschöne Instrumental „Dark River“ (Jahre später sollten Coil „London’s Lost Rivers“ beschwören) oder das von Marc Almond gesungene “Titan Arch”, auf dem unterirdische Monarchen auftauchen, die auf Kenneth Grant/H.P. Lovecraft verweisen („They walk serene/In spaces between“). Im Titelstück, mit den schleppend-wuchtigen Drums von Charles Hayward von This Heat, wird an Hoffmanns „Sorgenkind“ erinnert, an Blakes „The Sicke Rose“, wortspielend an Aleister Crowley (“the vision and the void”), an Roy Orbinsons “In Dreams” und damit unweigerlich auf dessen Rolle in David Lynchs „Blue Velvet“. In der Tat muss man dann konstatieren: „innocence is dripping red“.

Dass Artwork von Steven Stapleton passt zu diesem schier unerschöpflichen Album.  Im Infinite Fog-Booklet spricht Stapleton über die Entstehungsgeschichte und den Schaffensprozess.

Die Wax Trax- und Infinite Fog-Versionen unterscheiden sich von der Herangehensweise: Beide inkludieren auch auf Vinyl die Tracks, die damals nur auf CD zu finden waren. Die Infinite Fog-Version hat Bonusmaterial (Alternativversionen, die von Balance gesungene Version von „The Dark Age of Love“) und Linernotes von Stapleton und Danny Hyde, die Wax Trax-Version den bereits zitierten Essay von Drew Daniel, in dem dieser auch damalige Mitstreiter (Little Annie, Marc Almond, Rose McDowall etc.) interviewt. Ansonsten konzentriert man sich auf dieser von Josh Bonati neu gemasterten Version auf das Ursprungsalbum.

Rückblickend lässt sich vielleicht auch nooch deutlicher verstehen, warum Coil Schwierigkeiten hatten, den geplanten Nachfolger “Backwards“ fertigzustellen, denn verglichen mit “Love’s Secret Domain” klangen diese Aufnahmen dagegen doch konventionell(er).  (MG)

Label: Infinite Fog, Wax Trax