NIKOLAS SCHRECK: Berlinoir

“Ladies and Gentlemen, welcome to the Berlinoir, the drinks are cold and the band is red hot! Please sit back and relax and let the dancers sway all your troubles away” – so sagt eine laszive Frauenstimme mit charmantem Akzent Nikolas Schrecks zweiten Solo-Longplayer an, und nicht nur die Swingmusik und die Bargeräusche im Hintergrund legen nahe, dass Berlinoir nicht so sehr das Berlin der schwarzgewandeten Clubnächte ist, sondern das einer anderen Zeit, die vielleicht bereits ein Jahrhundert zurückliegt oder vollends imaginär ist. Und sie trägt ihre dunklen Geheimnisse. Auch vermute ich es mehr im altehrwürdigen Westen der Stadt, in der kleinen Brise Mayfair und Soho, die die deutsche Hauptstadt aufbringen kann, und nicht in den Hotspots der Lässigen und Rastlosen, doch das sind nur kleine krumme Wegweiser im Nebel, denn allzu fest steht nichts in “Berlinoir”.

Fast nichts, sollte man sagen, denn nach dem kurzen Intro beginnt der Reigen gleich mit dem poppigsten Stück des ganzen Albums: Tanzbar wie “The Futura Model” vom Vorgänger “The Illusionist” führt “United States of Consciousness” durch fünfeinhalb Minuten simpler Takte und grooviger Synthies, und wie der Titel schon ahnen lässt, holt Schreck hier erst einmal zu einem Rundumschlag gegen alle billigen Glücksversprechen aus, die unsere Zeit, die hier unmissverständlich als finstere Ära der Göttin Kali anmutet, zu bieten hat. Der Abgesang auf rechte und linke Indentitätssehnsüchte in seiner EP “I’m Afraid of America” scheint hier zu einer Conclusio im Wunsch nach alchemistischer Überwindung des Denkens in Gegensätzen zu münden, und eine solche Message ist für Schreck ungewohnt klar. Dem eingängigen Popcharakter des Songs steht sie durchaus gut.

Im weiteren Verlauf entpuppen sich die Songs aber gewohnt doppeldeutig und auch von der Machart herausfordernder. Da sind zum einen schummerige, im Dämmerlicht ruhende Stücke wie “Flowers of Flesh (Arcanes 3)”, dessen auf französisch gesungene Duettpassage einen unbemerkt in eine traumhafte Zwischenwelt abdriften lässt. Eine sanfte Melancholie durchweht diesen Song – und auf den oberflächlichen Eindruck auch “Tomorrow the Rain”, dessen in Wirklichkeit gelöste und erlöste Atmosphäre einen Evergreen der alten Zeit mit einer anrührenden Wave-Ballade zu überblenden scheint.

Doch nicht nur der Text, der von Irrgärten und intimen Blicken in goldenen Käfigen kündet, von unterirdischen Maskraden und einigem mehr, lässt das Abseitige, Abenteuerliche durchscheinen, das in anderen Songs noch deutlicher zutage tritt: In “Prince Sirki Requests” z.B., das sich sanft heranschleicht und sich, auch dank der Drumkünste Heathen Raes, in einem rasanten Feedback entläd. Der Song basiert lose auf dem Plot von Mitchel Leisens Filmklassiker Death Takes A Holiday (Die schwarze Majestät) von 1934 und verpflanzt die Geschichte um den personifizierten Tod, der sich in Verkleidung eines Prinzen unter die Menschen begibt, in ein abgedunkeltes Szenario zwischen Havel und Spree, und mit der Zeit wird immer deutlicher, dass der Song viel ernster ist als es die schaurigschöne Atmosphäre suggeriert. Der Titeltrack dagegen präsentiert eine angejazzte Verschwörerszenerie, die sich glatt in Gottfried Benns Nachtcafé zugetragen haben könnte.

Zwei Stücke stechen besonders heraus. Das unscheinbar betitelte “2:51″ hält mit seinen sarkastischen Celloparts und den unerbittlich pochenden Drums die dramatischsten Momente bereit und gibt die desillusionierten Überzeugungen eines Menschen wieder, der spätnachts aufwacht und seinem Gedankenkarusell ausgeliefert ist. Kein Phoenix entsteigt der Asche, das Glas ist nicht halbvoll, sondern zerbrochen und einige Slogans mehr zertrümmern alle hoffnungsfrohen Klischees, und wer schon mal einen Bad Trip hatte, findet hier die passende Musik dazu. “Oh Ann”, das mit einer “Buried Alive”-Orgel beginnt und zu einem eigenwilligen Baroque Blues wird, könnte dazu in seiner Freundlichkeit nicht komplementärer sein. Eine heile Welt bieten einem die tremolierenden Sounds aber auch hier nicht, trotz allem jedoch so etwas wie Gelassenheit im Angesicht des Verfalls. “Make friends with your wounds, they will never desert you”, lautet der zwielichtige Vers im Herzen des Songs, und es ist diese Stimmung, die nachhallt, wenn der Vorhang fällt und die Vision von Berlinnoir von einer rauschenden Brandung ins weite Meer gezogen wird.

Das Album, das den Stil des Vorgängers aufgreift und vielleicht eine Idee stringenter wirkt, ist bislang nur digital auf den gängigen Plattformen erhältlich – ob es noch eine physische Edition geben wird, entzieht sich meiner Kenntnis, aber es wäre zu hoffen. Ein Nachforger existiert  bereits, doch dazu mehr bei einer anderen Gelegenheit. (U.S.)