ELSPETH ANNE: Mercy Me

Die Musik der englischen Sängerin und Mehrfachinstrumentalistin Elspeth Anne ist zu vielgestaltig, als dass man sie auf ein zentrales Thema reduzieren könnte. Dennoch ist die Auslotung (und in Ansätzen vielleicht auch Heilung) persönlichen Unbehagens ein Motiv, dass sich wie ein roter Faden durch alle bisherigen Veröffentlichungen der Musikerin zieht. Auf ihrem vorigen Album “Night Island” stellte sie sich der Herausforderung, ihren Fokus über das Mittel der Langsamkeit stärker auf die Traurigkeit zu lenken, im Unterschied zu früheren Veröffentlichungen, bei denen die unruhige, mitunter wütende Seite des Unbehagens einen viel größeren Raum eingenommen hatte. Inzwischen sind einige Jahre und eine ganze Pandemie mit ihren vielfältigen Brüchen und ihren Formen der Isolation ins Land gezogen und haben eine Menge Stoff für neue Reflexionen geboten, die zuverlässigin kreative Imagination mündeten. Seit einigen Tagen ist nun ein neues Album draußen, das vielleicht so etwas wie einen neuen Abschnitt in Elspeth Annes Karriere markiert. Auf “Mercy Me” scheint der Gegensatz zwischen Wut und Melancholie beinahe aufgehoben, und an manchen Stellen scheint auch so etwas wie Versöhnlichkeit um die Ecke zu schielen.

“Mercy Me” startet mit anrührendem Banjospiel und einem wachen Gesang, dessen eingängige, auch im minimalen Soundgewand schon etwas dezent Folkrockiges implizierende Melodie einen unmittelbar erreicht, doch schon bald wird spürbar, dass die Topographie auch dieses Albums von dämonischen Entitäten bewohnt ist – spürbar beispielsweise in der brüchigen Stimmarbeit, die im Titilsong über der wabernden Dröhnung einer Shrutibox von grausamen Todesarten kündet und sich reichlich aus dem okkult eingefärbten Symbolfundus der Hexenprozesse der frühen Neuzeit bedient. Doch es gibt auch Zeichen einer trotzigen Weigerung, das Schicksal des Opfers anzunehmen, Zeichen eines Antifatalismus, der zwar kein gutes Ende im kitschigen Sinne eröffnet, aber einen möglichen Weg in Richtung Freiheit andeutet.

Gleichwohl “Mercy Me”, das mit zwei Gastmusikern und mehr als zwei Handvoll Instrumenten aufgenommen wurde, seine opulenten Seiten hat, erscheinen mir die fragilen Folksongs, bei denen ergreifend sensible Gitarren-, Banjo oder Pianoparts und ein ebensolcher Gesang im Zentrum stehen, als die stärksten und berührendsten Momente des Albums. “In Mai” zeichnet vor stilvoll feierlichem Strumming eine frühlingshafte Welt, in der zunächst nur die überdeutliche Fragilität, später eine dunkle Dröhnung und eine geheimnisvolle Feuersymbolik eine Brüchigkeit andeutet, die einen auch im Wonnemonat für kurze Momente schaudern lässt. “Hell is Blossoming” zeichnet mit sich langsam entwickelnden Tonfolgen auf dem Klavier und schwermütigen Versen ein Szenario in einem verwunschenen Haus, das an Werke wie Henry James’ The Turn of the Screw oder Filme wie The Innocents denken lässt, aber bei genauerem Hinhören auch eine Feier der Verbundenheit sein könnte. In “Coward” geht das lyrische Ich vor der Kulisse eines fragilem Gitarrenpickings mit sich selbst angesichts einer (gefühlten?) Gefahr ins Gericht, und man erhält eine Ahnung davon, was die Sängerin meint, wenn sie wiederkehrende Träume und Albträume als eine Inspirationsquelle für das Album benennt.

All dies jedoch strahlt die abgeklärte und zugleich warme Souveränität desjenigen aus, der all diese Ängste ohne Schönfärberei im Griff hat oder zumindest mit ihnen zu leben weiß. Schon deshalb passt ihre Interpretation von “When I Was A Young Girl” – neben dem dröhnenden und zwitschernden Ausklang von “Peggy Gordon” eines der beiden Traditionals auf dem Album – so gut auf “Mercy Me”: Keineswegs anmaßend wirkt es, wenn sie die einst von Nina Simone gesungenen Verse intoniert, die auf ein ausschweifende Leben zurückblicken und in denen sich Alehouse auf Jailhouse reimt. Fast wirkt es, als überlagerten sich zwei Zeitebenen, so dass sich das junge, erlebende Ich und sein späteres Selbst für Momente versöhnt sind. (U.S.)